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LEHRBUCH
FUNCTIONELLEN
_ NERVENKRANKHEITEN
AUF PHYSIOLOGISCHER BASIS
BEARBEITET
VON
Dr. ALBERT EULENBURG,
Privatdoc. an der Univers. Berlin und Assistenzarzt der medicin. Univers.-Policlinik, z. 2. Stabsarzt im 5. Feldlazareth des 9, Armee-Corps.
BERLIN, 1871.
VERLAG VON AUGUST HIRSCHWALD.
Unter den Linden No. 68.
Das Recht der Uebersetzung in fremde Sprachen wird vorbehalten.
Vorrede
An Stelle eines Vorworts muss ich zunächst mein Be- dauern aussprechen, dass mir nicht vergönnt war, allen Theilen dieses Werkes nach Inhalt und Form die letzte Feile zu geben, da die unerwarteten Ereignisse dieses Jahres plötzlich meine Thätigkeit auf dem Kriegsschauplatze ausschliesslich in Anspruch nahmen. Aus demselben Grunde war es mir auch unmöglich, den grösseren Theil der Cor- rectur selbst zu lesen, und war ich daher in dieser Be- ziehung auf fremde Sorgfalt angewiesen, deren hingebende und ausdauernde Bemühungen ich mit lebhaftem Dank an- erkenne. Nach Wunsch des Herrn Verlegers liess sich das Erscheinen des Werkes, dessen Druck ohnehin schon ınehrfache Störungen erfahren hatte, nicht länger hinaus- schieben.
Die Grundgedanken, welche mir bei Entwurf und Ab- fassung des vorliegenden Buches vorschwebten, lassen sich wohl einerseits als wesentlich kritische, andererseits als mehr positive und constitutive bezeichnen. Es galt zu- nächst, unbeirrt durch Phrasen und Periphrasen, welche gerade auf diesem Gebiete noch in üppigster Fülle wuchern, unbefangen zu constatiren, was denn eigentlich in der Pathologie und Therapie der hier abgehandelten Krankheitszustände als wirklich gesicherter Be- sitz anzusehen ist; wie Vieles dagegen in unsicherem
IV Vorrede.
Schwanken verharrt, oder als traditionell fortgeerbter Irr- thum ein schädliches Scheinleben fristet. Andererseits je- doch stellte ich mir hier, wie schon in einer Reihe früher veröffentlichter Vorarbeiten, allenthalben die Aufgabe, den vielfach noch so luftigen Bau der Nervenpathologie auf der Basis der heutigen physiologischen For- schung und einer mit allen Hülfsmitteln der Ge- senwart bereicherten clinischen Beobachtung fe- ster zu begründen.
Ich habe davon abstrahirt, eine von neuen Prineipien ausgehende Anordnung des gesammten Stoffes zu unter- nehmen, so verführerisch der Gedanke auch war, und mich vielmehr im Allgemeinen an die classische Romberg’sche Eintheilung angelehnt, wobei ich mir jedoch nicht nur ge- wisse Namensveränderungen, sondern auch im Einzelnen vielfache anderweitige Abweichungen erlaubte. Die dafür sprechenden Gründe wird man an den betreffenden Stellen erörtert finden; hinsichtlich einiger massgebenden Ge- sichtspunkte verweise ich namentlich auf das in der Ein- leitung des ersten Abschnittes ($. 1. u. fl.) Bemerkte. — Wer nur einigermassen auf neuropathologischem Gebiete orientirt ist, wird die immensen und geradezu unüberwind- lichen Schwierigkeiten kennen, welche sich einer Streng systematischen Classification und Gruppirung des Stoffes noch zur Zeit widersetzen. Das einzige unanfechtbare und in sich ebensowohl consequente als erschöpfende Einthei- lungsprineip, das rein anatomische, ist für die meisten hier- hergehörigen Krankheitszustände gar nicht oder nur in sehr beschränkter Weise verwerthbar, wofür ich Belege wohl nicht anzuführen brauche. So muss es denn gerathen er- scheinen, das functionelle, physiologische Eintheilungsmoment mit dem anatomischen so harmonisch wie möglich zu ver-
Vorrede. i V
schmelzen, wie es bei der Sonderung von Neurosen des . Empfindungs- und Bewegungsapparates und ihren weiteren Untertheilungen versucht ist, ohne eben darin mehr als ein von Opportunitätsrücksichten gebotenes Auskunftsmittel er- blicken zu wollen. Uebrigens entspricht diese Anordnung ‘ wohl zugleich am besten dem Bedürfnisse des Arztes, der im concreten Falle bei den Erkrankungen des Nervenap- parates meist wesentlich von der vorliegenden Functions- störung ausgehen muss, und erst auf Umwegen, zum Theil sehr weitläufiger Art, zur Ernittelung des anatomischen Krankheitsprocesses fortschreitet. Allerdings kann bei dieser Eintheilung die Subsumption unter die eine oder die an- dere Gruppe häufig nur a potiori geschehen, da die mei- sten hierhergehörigen Krankheitszustände keineswegs reine Neurosen des Empfindungs- oder Bewegungsapparates, son- dern in Wahrheit gemischter Natur sind. Bezüglich dieser, noch bei Weitem nicht genügend anerkannten und gewür- digten Thatsache, verweise ich besonders auf die in der Lehre von den Neuralgien enthaltenen Erörterungen. — Man wird ferner unter der Zahl der in jenen Rahmen ein- gefügten Krankheitszustände manche Lücken entdecken. Bei dem massenhaften Anwachsen des Materials und bei einem von vornherein gegebenen, beschränkten Umfange des Buches war ich Vieles — namentlich in den letzten Abschnitten — fortzulassen oder zusammenzudrängen ge- nöthigt. Einen Theil des hier Fehlenden wird man über- dies bereits in zwei früheren monographischen Arbeiten (Eulenburg und Landois, die vasomotorischen Neurosen, Wiener medicinische Wochenschrift 1867 u. 1868; Eulen- burg u. Guttmann, die Pathologie des Sympathieus, Grie- singer’s Archiv 1868—70) ausführlich dargestellt finden.
Ich sehe in dem vorliegenden Werke, dem einstwei-
VI Vorrede.
ligen Abschlusse vieljähriger Bestrebungen, nur einen An- fang, den ersten Schritt zu dem oben angedeuteten Ziele. Möge denn in minder stürmischer Zeit auch eine ruhige Würdigung diesem Versuche zu Theil werden, und möge ihm vor Allem die hülfreiche Förderung wie die nachsich- tige Beurtheilung derer nicht fehlen, welche auf diesem Gebiete der Pathologie durch gefeierte, in den Annalen der Wissenschaft unauslöschbare Leistungen glänzen!
Orleans,, den 28. December 1870.
A. Eulenburg.
88. 1—7 $$. 8—14 a ne SS Berk 88. 45—57. 8. 58—64. $. 65.
$$. 66—68. 88. 69—171. 12,
88. 73—80. $. 81,
8. 82—91, 83. I2—
88. 97 —105.
Inhalt
3 Seite Neurosen des Empfindungsapparates. Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven. Allgemeine Formen der Sensibilitätsstörung. Hyperästhesien Und Amasthesienan. nee ensure ae, oe. 1 Physiologische Leistungen der sensibeln Hautnerven. — Prü-
“ fungs-Methoden für Drucksinn, T'emperatursinn, Ortssinn, cu- tanelGemeingeluhlenen se 0. see ee ee en a 13 Tastsinnsverschärfung len: cutane Hyperalgien und Baralgien® 2. me ee Re te 27 Neuralgien. Allgemeine Pathologie und hisie ee 38
Oberflächliche (eutane) Neuralgien. 17 NeuraleiarıN.trigemini.. ce ee an 90 28 Hemicranie. 2. 0.0. aa. aaa re naar 116 3. Neuralgia oceipitalis (cervico-oceipitalis). .... 2. .... 133 42 Neuralsiasbrachjalise. u u st. a u a AN, 155 5. Neuralgia der Nn. thoraciei (Neuralgia intercostalis, dorso- intercostalis. — Mastodynie) 7,4... 2.0. 22. 0% 140 62. Neuralgis,plexzus-lumbalis 5"... ca. run: ann 147 = Neuralgia plexus-ischiadiei (Ischias) „2... 22. ..: 149 SoSe god Die PR Re nen NR enge 171 Viscerale Neuralgien. 1. Angina pectoris (Neuralgia cardiaca), .. 2... v0. 172 2. Neuralgia gastrica (Cardialgie. Gastrodynia neuralgica. Neuraleiasceoelacay 2a. Sale een 193
3. Neuralgia mesenterica. Colik (Enteralgie, Enterodynie). Dlexcolik (Coliearsaturnica) une ua ao ee 200
VIII
$$. 106-110. SS eher 88. 135—140, $. 141.
$$. 142—149. $$. 149a—155. 88. 156—158, 88. 159— 168. 88. 170—177.
88. 179—183, 88. 184—191.
$$. 192— 203.
88. 204 - 214.
88. 215220. 88. 221— 228. 88. 224— 234. 88. 235-250 88. 251— 258. $. 259.
88. 260—261. $$. 262 — 266. 88. 267—285
88. 286—291
88. 286 — 288
$8. 289—291
Inhalt,
Seite 4; * Neuralgia hypogastriea’; age ln. 2 218 Cuwtane Anasthesien m, a ee. le 223 Niscerale Paralgien und Hyperalgien. .. ... 2. 22.2.2272 271 Viscerale "Anasthesiem... u 1.0... ker. u can 20 MEER Fre 278 Physiologische Leistungen der sensibeln Muskelnerven. Prü- fungsmethoden für musculäres Gemeingefükl und Muskelsinn. Musculäre Hyperästhesien und Anästhesien... 2... ..... 282 Neurosen der Geschmacksnerven. ......2.2.... 292 Neurogen des Oliaetorius.. 2 es 307 Neurosen des5Optieus.... .... Je ae 312 Neurosen des Acustieus. ......... N 328
Neurosen des Bewegungsapparates.
Lähmungen !(Akinesen) 2 u eye ea
Allgemeine Pathogenese und Charakteristik der peripherischen Lahmungen in... 0 S ao Allgemeine Pathogenese und Charakteristik der spinalen De
MUNGEN a en a ne 5 re ee 366 Allgemeine Pathogenese und Charakteristik der cerebralen Lahmungen. „vn nun 1 Se re 391 Ischäamische, anämische und toxische Lähmungen ....... 410 Functionelle Lähmungen. (Reflexlahmungen. Neurolytische Zalmungen) Sn 20 ER RR eo hen c EN Lähmungen nach acuten und constitutionellen Krankheiten .. 430 Allgemeine Therapie der Lähmungen... ........... 445 .
Specielle Pathologie und Therapie der Lähmungen.
Lahmunz- des N. .oeulomotoriuss 2 0 ee 469 Lähmung-des N. stroehleanisay... 2 usa Se 486 Eahmung, des N. abducenst. 0 0. eu Se 487 Combinirte Augenlähmung. Fortschreitende ae der
Augenmuskeln (Ophthalmoplegia progressiva). ......... 489 Wahmung desN.Jtacialisın oe so ana ae ee 493 Lähmungen im Gebiete des Plexus pharyngeus und oesopha- SEUSS Ne We, U Le ke ee el Ehe 13028 T. Eahmunerdes, ,Gaumensegels 2.2... en ae 528 If. Lähmung des Pharynx und Oesophagus . . . 2 u22.222 böl
Br:
88. 292— 297.
$$. 298—300. &E. 401-307.
$, 308. $. 309. $. 310.
88. 811-313.
$. 314.
8. 316—319. $$. 319-320,
530,
88. 322—324,
32 3
. 339.
88. 334— 336.
Se 8. 338, $. 339,
88. 340-344,
88. 345347. ads gsc
Say ac.
E83. 369371.
8. 372.
aa 377.
88, 378—381.
Inhalt. IX
Seite Lähmung der Rami laryngei (Lähmung der Kehlkopfmuskeln.
Stiromlahpıung,, Aphonia, paralytiea) . ..... a... du 2 534
Lähmung des N. hypoglossus. (Zungenlähmung. Glossoplegie) 546 Paralysis glosso-pharyngo-labialis (Paralysie musculaire pro- gressive de la langue, du voile du palais et des levres, Du- chenne). Fortschreitende Bulbärparalyse (Wachsmuth) ._... 549
Lähmung der Rumpfmuskeln,
1. Lähmung des M. sternocleidomastoides .... 22.2.2... 561 2 Balimunesdes» Me euenllanis'. . 2. nun een 562 selallmung.des2M. pectoralis.,. ... 2. 0. Henna 565 4. Lahmung des M. serratus antieus magnus. . 2.22 2.2.. 565 Deslralımung? des’ M. latissimus dorsi ... 0... 2... ie 569 GeLahmung der Inspirationsmuskeln. ..... 0... 22: onaiae 57 7. Lahmung der Rückenmuskeln. ....... Sri NER as 574 8. Lähmung der Bauchmuskeln ..... SER RR et ol Lähmungen der oberen Extremitäten, 1. Lähmung des M. deltoides, subscapularis, teres minor und infraspinatus. (Lähmung des N. axillaris)...... .....%.. DR 2 Lähmung des N. musculo-eutaneus... on... 2... 580 > lahmune des“N.sradiallsen an ser een 880 4. Lähmung des N, medianus. ..2..... ee . 89 9, Bahmune des N. ulnaris .. ...... en Ber ae 593 Lähmungen der unteren Extremitäten, 7 Bahmunp-des. N, eruralis. ..... 2.2... 0% een 595 2 bahmung.ides' N, obturatormus .. u. ln. ne nur 596 Sekahmeanginder.Nn. glutaer ln. ns Zen ra 896 14 bahmungrdesN. .ischiadieus 2... ..c.n cn. 2 te 5997
Paralysis ascendens acuta. Acute, aufsteigende Paralyse, ... 603 Paralysis essentialis infantilis. Paralysie essentielle de l’enfance (Rilliet — Barthez). Spinale Kinderlähmung (Heine). Paralysie
:atrophique graisseuse de l’enfance (Duchenne) ......... 607
Hyperkinesen und Parakinesen.
Wechselkrämpfe. Tremor. Convulsionen, Tonischer Krampf, Gontraebu ea Lee ee ee 623 Krämpfe der motorischen Augennerven ... 222202200. 642
IzampferdesiN.tpigeminus in ee ee nee 646 Krämpfe im Gebiete des N. facialis. Partieller und diffuser Gesichtsmuskelkrampf (Blepharospasmus, Spasmus nictitans, Anenconvulsıtyas San wi). 2 Ka nn en et ee 647 Krämpfe im Gebiete der Nn. laryngei. Spasmus glottidis.
INOSSISHCODNUlSBy a I a en ee 656
X
88. 382—384. 88. 385—388.
88. 389—391.
8. 392,
88. 393 —395. 88. 396— 406.
88. 407—409. 88. 410-417.
88. 418—426.
Inhalt,
Krampf der Rami bronchiales. Asthma bronchiale seu diffusum Krämpfe der Respirationsmuskeln. Singultus. Oscedo. Niese-
Krampf des M. sternocleidomastoides und emeullaris...... Krämpfe im M. obliquus capitis inferior Krämpfe der übrigen Hals- und Schultermuskeln........ Funetionelle Krämpfe (coordinatorische Beschäftigungsneurosen). Schreibekrampf und verwandte Zustände . .... 222220. Statische Krampfen. 1... 22. .0.%. os Paralysis agitans und verwandte Zustände von paralytischem
IBrEmMOrnN re ee EIERN EN
Anhang.
Hemiatrophia facialis progressiva .. 2. ev 2er e..
Neurosen des Empfindungsapparates,.
Eulenburg, Nervenkrankheiten. i
Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
Allgemeine Formen der Sensibilitätsstörung. Hyperästhesien und Anästhesien.
$. 1. Die herkömmliche Aufstellung der „Sensibilitätsneurosen“ als Krankheitsgruppe und ihre Eintheilung in Hyperästhesien und Anästhesien fusst auf einer rein symptomatischen Betrachtung. Hy- perästhesie und Anästhesie sind nichts als generelle Bezeichnungen gewisser Symptome oder Symptomreihen, die nur künstlich (wie bei den Neuralgien) zu einheitlichen elinischen Krankheitsbegriffen autf- geschraubt werden konnten, indem man concomitirende motorische oder trophische Störungen theils ignorirte, theils als abhängig von primären Störungen der Sensibilität hinstellte.e Fragen wir uns, an welches anatomische Substrat jene specifisch sensibeln Symptome und Symptomreihen ursprünglich geknüpft sind? welche Theile des Ner- venapparates dabei in abnormer Weise fungiren? so lautet die Ant- wort in ihrer allgemeinsten Fassung: der Empfindungsapparat, d. h. der gesammte Complex nervöser Elementartheile, welche ihre (durch äussere oder innere Reize geweckten) Erregungen dem Be- wustsein zuführen — mögen diese Erregungen sich im Bewusstsein zu bloss subjeetiven Empfindungen (Gefühlen), oder zu objectivirten Sinnesempfindungen, zu Anschauungen und Vorstellungen entwickeln. Aber beim Versuche einer schärferen Präcisirung und Umgränzung der den Empfindungsapparat constituirenden Abschnitte des Nerven- systems stossen wir vielfach noch auf Lücken und Schwierigkeiten, die bereits an der Peripherie der erregungsleitenden Apparate begin- nen und bei ihrer weiteren Verfolgung gegen die Centren hier in fast stetig anwachsender Progression zunehmen. Mit der Ausfüllung die- ser Lücken sehen wir sowohl die Histologie als die experimentelle
jo*
4 Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
Physiologie eifrig beschäftigt. Beide, auf verschiedenen Wegen dem- selben Ziele zustrebend, haben in neuester Zeit werthvolle und wich- tige, wenn auch zum Theil noch nicht definitive Errungenschaften auf diesem Gebiete zu Tage gefördert.
$.2. Um zu einem klaren Begriffe von Hyperästhesie und Anästhesie und zugleich zu einem critischen Urtheil über diese dualistische Schei- dung der Sensibilitätsstörungen überhaupt zu gelangen, müssen wir das Verhältniss dieser Anomalien zum normalen Empfindungsvorgange kurz analysiren.
Der Process der Empfindung besteht in seinen wesentlichen Zü- gen darin, dass ein Reiz (sei es ein dem Organismus selbst oder der Aussenwelt angehöriger) auf erregbare Elementartheile des Empfin- dungsapparates einwirkt, und in denselben Molecularvorgänge hervor- ruft, die wir uns (nach einem hypothetischen Bilde oder einer bild- lichen Hypothese) einstweilen als Sckwankungen der Nerventheilchen aus ihrer mittleren Gleichgewichtslage heraus, als wellenförmig fort- gepflanzte Oscillationen vorstellen mögen. Die primäre Erregungs- welle, in den isolirten Leitungsbahnen der peripherischen Nervenröh- ren zunächst bis zu den centralen Insertionen in Nervenkörpern fort- gepflanzt, hat in diesen und den damit zusammenhängenden Systemen von Nervenkörpern ebenfalls Molecularbewegungen, Oscillationen der ruhenden Nerventheilchen zur Folge; und zwar um so grössere und ausgebreitetere, je stärker die primäre Welle selbst ist. Der corre- late psychische Ausdruck dieser Vorgänge ist eine Veränderung im Indifferenzzustande des Bewusstseins, die Perception einer Em- pfindung (resp. die Verknüpfung mehrerer Empfindungen unter ein- ander nebst den daraus hervorgehenden Objectivationen). — Die Stärke einer im Bewusstsein pereipirten Empfindung muss demnach offenbar durch zwei Factoren wesentlich bestimmt werden: durch die Intensität des einwirkenden Reizes, und durch die Erregbarkeit der seiner Einwirkung unterliegenden Elemente des Empfindungsapparates. Bei gleiehbleibender mittlerer Erregbarkeit dieser letzteren muss je- der Reiz einen seiner Intensität adäquaten Erregungsgrad, einen äqui- valenten Ausschlag aus der Gleichgewichtslage der Nerventheilchen hervorrufen. Der Intensität dieser primären Erregungswelle muss die Stärke und Diffusion der secundären Welle in den sensibeln Centren und der correlate psychische Ausdruck derselben — die Reaction im Bewusstsein — nothwendig entsprechen. Ein wichtiger Aus- druck dieses normalen Verhaltens ist u. A. das für verschiedene Classen von Sinnesempfindungen nachgewiesene psychophysische Ge-
Hyperästhesien und Anästhesien. 5
setz, wonach der Empfindungszuwachs dem Verhältnisse des Reiz- zuwachses zur ursprünglichen Reizgrösse proportional ist.
Reizstärke und Reaction im Bewusstsein, d. h. die Stärke der percipirten Empfindung, stehen beim gesunden Individuum fortdauernd in einem Verhältnisse von annähernd constanter Proportionalität: eine Thatsache, welche unbewusst oder doch nur dunkel bewusst eigentlich den Hintergrund unseres gesammten physiologischen Empfindungs- ‚lebens ausmacht. Die Beobachtung des letzteren lehrt, dass, wäh- rend die inneren und äusseren Reizquellen fort und fort wechseln, der andere Factor unseres Empfindungslebens, die mittlere Erregbar- keit des Empfindungsapparates, nahezu constant bleibt oder wenig- stens nur leichte und temporäre, der Mehrzahl der Menschen kaum auffällige Schwankungen erleidet. Andererseits beruhen dagegen zahlreiche pathologische Anomalien der Empfindung eben auf Ver- änderungen dieses Factors, der mittleren normalen Erregbarkeit des Empfindungsapparates, resp. einzelner Abschnitte und Partikeln dieses vielgliedrigen Complexes. Indem in Folge materieller Krankheits- processe die mittlere Erregbarkeit in mehr oder minder ausgedehnten Zonen des Empfindungsapparates erheblich und andauernd alterirt wird, muss ein dauerndes Missverhältniss zwischen der Reizstärke einerseits und der Reaction im Bewusstsein, d. h. der Stärke der pereipirten Empfindung andererseits resultiren.
Es handelt sich dabei entweder um ein Plus der Reaction gegen- über dem einwirkenden Reize — dann ist Hyperästhesie, Ueber- empfindung — oder um ein Minus — dann ist Anästhesie, Em- pfindungsschwäche, resp. Empfindungslähmung vorhanden.
Hyperästhesien sind demnach Symptome von Neurosen des Em- pfindungsapparates mit dem Charakter der Irritation, d. h. wobei durch den einwirkenden Reiz excessive, die normale Proportion über- steigende Reactionen im Bewusstsein ausgelöst werden.
Anästhesien sind Symptome von Neurosen des Empfindungs- apparates mit dem Charakter der Depression, wobei die im Bewusst- sein erfolgende Reaction in irgend einer Weise defect (vermindert, verlangsamt, oder vollständig null) ist.
Hyperästhesien und Anästhesien können ihrem Begriffe nach sowohl bei Erregungen aller peripherischen Sinneswerkzeuge, wie bei Erregungen der das Gemeingefühl vermittelnden Elemente des Em- pfindungsapparates, der eigentlichen Gefühlsnerven entstehen. Die ausschliesslich dieser letztern Quelle entstammenden Empfindungs- anomalien können wir, dem umfassenden Begriffe der Hyperästhesien
Te
6 Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
und Anästhesien gegenüber, als Hyperalgien und Hyperalgesien, Analgien und Analgesien bezeichnen. Ich subsumire im Folgen- den unter Hyperalgien und Analgien alle anomalen Bewusstseins- reactionen in der Sphäre der Gefühlsnerven überhaupt — unter Hy- peralgesien und Analgesien dagegen nur diejenigen, wobei die ge- waltsameren, als Schmerz bezeichneten Reactionen in vermehrter oder verminderter Proportion auftreten.
$.3. Man hat, ausser den Hyperästhesien und Anästhesien, vielfach noch eine dritte Gruppe von Sensibilitätsstörungen angenommen, welche gleichsam in der Mitte zwischen jenen beiden stehend weder der einen noch der anderen bestimmt anzugehören scheint, und hat die Symptome dieser Gruppe als Parästhesien bezeichnet. Eine ceri- tische Betrachtung ergiebt jedoch, dass man es bei dan gewöhnlich so genannten Parästhesien bald mit.wirklichen Hyperästhesien, bald mit Anästhesien im obigen Sinne zu thun hat, so dass der Begriff der Parästhesie wenigstens in dieser Form für die Pathologie über- flüssig und selbst verwirrend erscheint. Dagegen giebt es noch eine grosse Gruppe von Neurosen des Empfindungsapparates, welche all- gemein den Hyperästhesien zugezählt werden — in Wahrheit jedoch nicht unter den obigen Begriff der Hyperästhesien subsumirt , son- dern zu denselben höchstens in eine weitläuftige und lockere Ver- bindung gebracht werden können.
Es gehören dahin namentlich die sogenannten Neuralgien, bei denen es sich in der Mehrzahl der Fälle überhaupt nicht um reine Sensibilitätsneurosen, sondern um einen combinirten, aus sensibeln, motorischen und vasomotorisch - trophischen Störungen gemischten Symptomencomplex handelt. Ferner reihen sich gewisse abnorme Sensationen hier an, welche z. B. im Bereiche der sensibeln Haut- nerven als Pruritus, Formication, Ardor, Algor — im Bereiche der visceralen Gefühlsnerven als krankhaftes Hunger- und Durstgefühl, Pyrosis, Globus u. s. w. aufgeführt werden.
Alle diese Krankheitszustände charakterisiren sich als anomale Bewusstseinsreactionen, welche durch Einwirkung abnormer (pa- thologischer) Reize auf mehr oder minder ausgedehnte Bezirke des Gefühlsapparates ausgelöst werden. Der wesentliche Unterschied zwischen ihnen und den Hyperästhesien (oder speciell den Hyperal-
'gien und Hyperalgesien) liegt in Folgendem: Wir haben die Reaction
im Bewusstsein, d. h. die Stärke der pereipirten Empfindung als Componente zweier Factoren gefasst: des einwirkenden Reizes, und der (beim gesunden Individuum nahezu constanten) mittleren Erreg-
Hyperästhesien und Anästhesien. 7
barkeit des Empfindungsapparates. Ist letztere in Folge krankhafter Vorgänge erheblich über die Norm gesteigert, so entsteht eine (im Verhältniss zur primären Reizgrösse) excessive Reaction im Bewusst- sein, die wir als Hyperästhesie (und im Bereiche der Gefühlsnerven als Hyperalgie) bezeichnen. Anders bei den Neuralgien und den übrigen aufgeführten Krankheitszuständen. Hier kann die mittlere Erregbarkeit des Empfindungsapparates intact geblieben sein; es wirken aber, (selbstverständlich gleichfalls in Folge materieller Krank- heitsvorgänge) andauernd oder intermittirend innere, organische Reize von abnormer Qnalität und Quantität auf mehr oder minder umfangreiche Bezirke des Gefühlsapparates ein und veranlassen Reactionen, wie sie zum Theil auch bei gesunden Individuen durch Einwirkung abnormer äusserer Reize vorübergehend ausgelöst werden. Wenn bei Gesunden ein Stoss gegen den Ellbogen Schmerz im Verlaufe des Nervus ulnaris, oder Druck auf den Nervus ischiadicus beim Sitzen das Gefühl des Ameisenkriechens im Fusse veranlasst, so steht hier die Reaction zum Reize in dem adäquaten Verhältnisse; es ist nur eine vorübergehende Abnormität der einwir- kenden Reizquellen vorhanden: der gegen den Ellbogen gerichtete Stoss oder die Compression des Nervus ischiadicus zwischen Tuber ischi un Stuhlkante. Das Gleiche findet, nur in höherem Grade und in anhaltender oder häufig wiederkehrender Weise auf Grund innerer, organischer Reize bei den oben genannten Krankheits- zuständen statt. Wir bezeichnen die dabei auftretenden Schmerzen und anderweitigen Sensationen als spontane, weil die sie erzeugen- den Reize nicht den Gegenständen der Aussenwelt, sondern dem eigenen Körper angehören und daher in der Regel nicht zum Be- wusstsein kommen — gerade so, wie wir unsere Willens- (d. h. Bewegungs-) Antriebe als spontane bezeichnen, weil wir uns nur ihrer selbst, nicht aber der veranlassenden Motive unmittelbar bewusst werden. Wir können ‚daher auch nicht sicher entscheiden, ob sich Reiz und Reaction dabei im dem adäquaten Verhältnisse bewegen, oder ob mit dem abnormen Reiz eine excessive Erregbarkeit des Empfindungsapparates im einzelnen Falle coineidire. Oft hat es wenigstens den Anschein, als ob die Intensität der Reaction mit der Winzigkeit des veranlassenden Reizes nicht im Einklange stehe; oft ist der veranlassende organische Reiz selbst schwer oder gar nicht zu eruiren. Dies gilt sowohl für die Neuralgien, wie für die übrigen hierhergehörigen Krankheitszustände und daraus erwächst die grosse Schwierigkeit, dieselben trotz des hervorgehobenen begrifflichen Un-
8 Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
terschiedes von den Hyperästhesien im conereten Falle vollständig zu sondern. Sehr oft sind offenbar Zustände abnormer Reizung mit Zuständen erhöhter Erregbarkeit (Hyperästhesien, resp. Hyperalgien) complieirt, wie dies z. B. aus dem häufigen Befund hyperalgischer Hautstellen (nicht zu verwechseln mit den bekannteren, subeutanen Druckschmerzpunkten) bei Neuralgien hervorgeht. Um die verschie- denen, oben aufgeführten Zustände unter einen Üollectivbegriff zu- sammenzufassen, könnte man dieselben als Paralgien, und, soweit die spontane Empfindung sich als Schmerz im engern Sinne dar- stellt, als Paralgesien bezeichnen. | $. 4. Hyperästhesien (in der obigen Bedeutung des Wortes) können unter dreierlei wesentlich verschiedenen Bedingungen ent- stehen: | 1. Die peripherischen Endigungen der Empfindungsnerven (resp. die mit ihnen zusammenhängenden, specifischen Aufnahmsapparate) können in Folge krankhafter Veränderungen erregbarer sein, als im normalen Zustande. Jeder auf sie einwirkende Reiz wird in Folge dessen eine abnorm starke Erregungswelle (abnorm grosse Exceursio- nen der Nerventheilchen aus ihrer Gleichgewichtslage) veranlassen; somit werden auch die secundären Molecularbewegungen in den sen- sibeln Centren und der psychische Ausdruck derselben, die pereipirte Empfindung, im Verhältniss zur ursprünglichen Reizgrösse excessiv ausfallen. Dies geschieht beispielsweise an einer durch ein Vesicans entblössten oder in anderer Art excoriirten Hautstelle, wo die Endi- gungen der Tast- und Gefühlsnerven freier zu Tage liegen, und schon auf Tastgrössen (Druck- oder Temperaturdifferenzen) von sonst un- wirksamer Reizstärke mit deutlicher Tastempfindung, oder auf leichte Gefühlsreize mit den heftigeren Aeusserungen des Gemeingefühls (Schmerz) reagiren. Wir können die hierher gehörigen Formen als (im engeren Sinne) peripherische Hyperästhesien bezeichnen. 2. Die peripherischen Endigungen der Empfindungsnerven und ihre Endapparate können den normalen, d. h. der Reizstärke pro- portionalen, Erregungsgrad annehmen; aber der Erregungsvorgang . wird in Folge krankhafter Veränderungen innerhalb der leiten- den Empfindungsbahnen so verstärkt, dass nichts desto weniger eine abnorm grosse Erregungswelle zu den sensibeln Centren gelangt und in Folge dessen ebenfalls excedirende Reaetionen ausgelöst wer- den. Dies ist wahrscheinlich sehr häufig bei neuralgisch affıeirten Nerven der Fall, und bietet uns eine, bisher nicht genügend gewürdigte Erklärung für das Vorhandensein subeutaner Druckschmerzpunkte bei
u z— —
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Hyperästhesien und Anästhesien. 9
- Neuralgien, auch an Stellen, wo alle Zeichen einer örtlichen Ner- 'venerkrankung, überhaupt eines örtlichen Erkrankungsheerdes, voll- ständig fehlen. Nehmen wir z. B. an, dass eine krankhafte Steige- rung der Erregbarkeit in allen oder einzelnen Bündeln des Trigemi- nus innerhalb der Schädelhöhle bestehe, so können dabei sehr wohl einzelne oder multiple Druckschmerzpunkte im Gesichte vorhanden sein, d. h. der an der Peripherie jener Bündel einsirkende Druck- reiz kann eine excessive Reaction (Schmerz) hervorrufen, "weil die an der Peripherie erzeugte normale Erregungswelle an der kranken Stelle des Nerven eine mehr oder minder bedeutende Verstärkung erfährt, und in dieser Gestalt nach den sensiblen Centren fortgepflanzt wird. Ein sehr interessantes, obwohl noch nicht ganz aufgeklärtes experimentelles Beispiel liefern die Hyperästhesien, welche bei Thie- ren nach einseitiger Durchschneidung der Hinterstränge auf derselben Körperhälfte beobachtet werden (Brown-Sequard, Schiff) und für welche auch am Menschen pathologische Analoga unzweifelhaft vorliegen. Wir können die zu dieser zweiten Gruppe gehörigen For- men, im Gegensatze zu den im engeren Sinne peripherischen, als Leitungs-Hyperästhesien bezeichnen. Es versteht sich, dass ihr Sitz sowohl in den sensibeln Nervenstämmen und Wurzeln, als in den spinalen und cerebralen Empfindungsbahnen — somit, nach der gewöhnlichen Redeweise, sowohl peripherisch als central gelegen sein kann.
3. Die einwirkenden Reize können normale Erregungen produ- ciren und diese durch die sensibeln Bahnen in normaler Weise nach den sensibeln Centren fortgepflanzt werden; letztere aber können in Folge krankhafter- Veränderungen auf die ankommende Welle mit un- gewöhnlich starken oder diffusen Molecularbewegungen antworten, und somit eine dem urprünglichen Reize disproportionale, excessive Re- action im Bewusstsein veranlassen. Wir können diese Formen als (im engern Sinne) centrale Hyperästhesien bezeichnen. Sie können, nach unseren jetzigen Kenntnissen über den Bildungsort be- wusster Empfindung, nur bei krankhaften Veränderungen der grauen Hirntheile, namentlich der Grosshirnrinde, entstehen. Da wir die Bildungsheerde der bewussten Empfindungen als identisch oder jeden- falls auf’s Innigste zusammenhängend mit den Organen des ichbildenden Bewusstseins ansehen müssen, so setzt diese Form der Hyperästhesien erhebliche Niveauveränderungen im Indifferenzzustande des Bewusst- seins oder eine sehr labile Gleichgewichtslage desselben nothwendig voraus; sie steht hart an der Gränze der psychischen Hyper-
10 Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
ästhesien, wohin die Hyperästhesien der Geisteskranken, Hypo- chondrischen, wohl zum Theil auch der Hysterischen, Epileptischen, Choreatischen u. s. w. gehören.
$. 5. Auch Anästhesien können, den Hyperästhesien parallel, in dreifacher Weise enstehen: |
1. Die Erregbarkeit der peripherischen Nervenendigungen, resp. der mit ihnen zusammenhängenden Aufnahmsapparate, ist in Folge krankhafter Vorgänge vermindert, oder gänzlich vernichtet. Alsdann ruft der einwirkende Reiz entweder abnorm schwache oder gar keine Erregungswellen hervor; die Reaction ist daher, auch bei Integrität der sensibeln Leitung und der centralen Perceptionsorgane, defect oder null. Dies sind (im engeren Sinne) peripherische Anästhe- sien. Dahin gehören z. B. viele Formen” von Tastsinnslähmung und cutaner Analgesie, die durch örtlich auf den Papillarkörper der Haut einwirkende Agentien (locale Anästhetica, Kälte, Circulationsstörun- gen u. s. w.) hervorgebracht werden.
2. Die Erregbarkeit der peripherischen Endigungen und Auf- nahmsapparate kann intact, die Leitung der Erregungen aber an ir- gend einer Stelle des langgestreckten sensibeln Bahntractus erschwert oder unterbrochen sein. Im ersteren Falle wird die primäre Erre- gungswelle nur in abgeschwächter Gestalt, im letzteren gar nicht nach dem Centrum gelangen. Diese Formen, welche die weitaus überwie- gende Majorität der pathologischen Anasthesien darstellen, lassen sich als Leitungs-Anästhesien bezeichnen. Ihr Sitz kann sowohl in den sensibeln Nervenstämmen und Wurzeln, als im Rückenmark und Gehirn — also nach der gewöhnlichen Ausdrucksweise peripherisch oder central sein. Massenhafte Beispiele liefern die Anästhesien, welche nach traumatischer und experimenteller Verletzung der Ner- venstämme, nach Durchschneidung der hinteren Wurzeln, der grauen Substanz und der Hinterstränge in toto, oder des gesammten Rücken- marks, sowie bei Compression, Degeneration und Atrophie dieser Theile beobachtet werden.
3. Die peripherische Erregbarkeit und die Veit in allenyThei- len des sensibeln Bahntractus können intact sein; die ankommende Erregungswelle ruft aber in Folge krankhafter Veräntlerungeh in den sensibeln Nervencentren abnorm schwache Molecularbewegungen her- vor, so dass die resultirende Empfindung defeet oder null ist. Dies sind (im engeren Sinne) centrale Anästhesien. Es gehören da- hin zum Theil die Anästhesien, welche man experimentell bei Thie- ren durch Abtragung der Grosshirnhemisphären, hervorrufen kann;
Hyperästhesien und Anästhesien. 11
wahrscheinlich auch ein grosser Theil der Anästhesien, welche man bei Geisteskranken, Hysterischen, Epileptischen, Choreatischen u. s. w., nachweisbar oft auf Grund von Destructionen in den Grosshirnhemi- sphären, namentlich in der Rinde, beobachtet. Die psychischen An- ästhesien stehen zu dieser Form in demselben Verhältnisse, wie die psychischen zu den centralen Hyperästhesien.
$. 6. Ein fundamentaler Unterschied wird für diese Grundfor- men der Anästhesien, vermöge ihres differenten anatomischen Ur- sprungs, durch das differente Verhalten der Reflexerregbarkeit .. geliefert.
Bei den — im engeren Sinne — peripherischen Anästhesien muss, falls keine Complicationen vorliegen, die Refiexerregbarkeit in den unempfindlichen Theilen gleichzeitig vermindert — bei den cen- tralen intact sein. Bei den Leitungs-Anästhesien kann entweder Ver- minderung oder Integrität oder sogar Erhöhung der Refiexerregbarkeit gleichzeitig bestehen — je nachdem der Sitz der Leitungsstörung oberhalb oder unterhalb des Reflexbogens, und ferner oberhalb oder unterhalb der reflexhemmenden Mechanismen (also im Allgemeinen cerebral oder spinal) ist.
Eine Anästhesie der linken Gesichtshälfte kann z. B. eine peri- pherische sein, indem in Folge von atmosphärischen Schädlichkeiten, Kälte ete. die Erregbarkeit der sensibeln Trigeminus-Enden auf- gehoben ist. Alsdann können auch die Reflexe des Blinzens von der Conjunctivalschleimhaut, des Niesens von der Nasalschleimhaut ete. nicht mehr erregt werden. Handelt es sich um eine Leitungsanästhesie, bedingt durch eine Exostose am clivus Blumenbachi, welche auf den Stamm des linken Trigeminus drückt, so kommen die obigen Reflexe ebenfalls nicht zu Stande, weil die vermittelnden Reflexbogen zwischen Trigeminus und Facialis oder Trigeminus und den Motoren der Ex- spirationsmuskeln noch weiter aufwärts in der Medulla oblongata gelegen sind. Eine Leitungsanästhesie der linken Gesichtshälfte kann aber auch durch einen Tumor in der Seitenhälfte des Pons oder im Corpus restiforme gegeben sein, wobei die aufsteigenden virtuellen Fortsätze der linksseitigen Trigeminusfasern leitungsunfähig werden; alsdann können |die Reflexe in ungestörter Weise erfolgen. Ebenso natürlich bei Anästhesien, welche durch Veränderungen in den Hirn- ganglien, den Grosshirnhemisphären u. s. w. bedingt sind. Eine bilaterale Anästhesie der unteren Extremitäten kann verursacht wer- den durch Compression der plexus sacrales in der Beckenhöhle oder der hinteren Wurzeln der untern Lumbal- und oberen Sacralnerven:
12 Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
in beiden Fällen muss mit der Sensibilität auch die Reflexerregbarkeit gleichmässig alterirt sein. Eine Anästhesie derselben Körpertheile kann aber auch von einer Compression des Rückenmarks in der Lumbalgegend abhängen: alsdann kann neben gänzlich aufgehobener Sensibilität intacte oder selbst gesteigerte Reflexerregbarkeit bestehen, weil die Reflexbogen schon unterhalb der Compressionsstelle (im Niveau der eintretenden Wurzeln) liegen und weil der hemmende Einfluss des Willens, resp. der cerebralen Hemmungsmechanismen auf die Reflexaction durch die spinale Leitungsstörung paralysirt wird.
Dem Grade nach können Anästhesien entweder complet sein, d. h. die Reaction auf Reize jeder Art ist in den anästhetischen Theilen gleich null; oder incomplet, entsprechend der Parese der Bewegungsnerven. Im letzteren Falle kann es vorkommen, dass die Reaction nicht für Reize jeder Art oder nicht gleichmässig für alle Reizgattungen, sondern vorzugsweise für einzelne derselben herab- gesetzt, für andere dagegen ungeschwächt oder sogar excessiv ist: ein Zustand, dessen ausgebildetere Formen man als partielle Em- pfindungslähmung bezeichnet.
$. 7. Die Ausdrücke „Hyperästhesie“€ und „Anästhesie “ werden zwar auf sämmtliche Sinnesnerven übertragen, so dass von einer Hyperästhesia und Anästhesia optica, acustica, olfactoria, gustatoria gesprochen wird, im engern Sinne Jedoch gelten sie vor- zugsweise für die Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven mit denen wir es im Folgenden zunächst ausschliesslich zu thun haben.
Anatomie und Physiologie lehren, dass die Ursprünge derjenigen Erregungen, welche als specifische Reactionen im Bewusstsein Tast- und Gefühlsempfindungen auslösen, wesentlich an drei Organsysteme des Körpers — obwohl in sehr ungleicher Weise — vertheilt sind: an die Haut mit Inbegriff der angränzenden, sogenannten äusseren Schleimhäute; an die Muskeln, resp. auch die passiven Theile des Locomotionsapparates (Knochen und Gelenke); endlich an die inneren parenchymatösen Organe, die Eingeweide des Körpers. Es lassen sich daher Hyperästhesien und Anästhesien der sensibeln Hautnerven, der sensibeln Muskelnerven und der visceralen Gefühlsnerven — cutane, musculäre, viscerale Hyperästhesien und Anästhesien — unterscheiden.
Wir werden im Folgenden eine im Ganzen ähnliche Reihenfolge beobachten, indem wir mit einzelnen Formen der cutanen Hyper- ästhesien beginnen, alsdann die oberflachlichen (cutanen) und tieferen
Physiologische Leistungen der sensibeln Hautnerven. 13
(visceralen) Neuralgien, die eutanen Anästhesien, die visceralen und endlich die musculären Hyperästhesien und Anästhesien erörtern.
Physiologische Leistungen der sensibeln Hautnerven. — Prü-
fungs - Methoden für Drucksinn, Temperatursinn, Ortsinn, cutane Gemeingefühle.
$. 8. Wie die physiologische Analyse der cutanen Empfindungs- erscheinungen ergiebt, müssen wir bei den Leistungen der sensibeln Hautnerven Zweierlei unterscheiden: die Qualität der durch die einwirkenden Reize geweckten Empfindungen, und das Vermögen localisirter Wahrnehmung der einwirkenden Reize. Letzteres Vermögen (Ort- oder Raumsinn) ist, wie wir wissen, nicht der Haut eigenthümlich, sondern kommt u. A. in weit höherem Grade auch der Retina zu, während die specifische Energie der sensibeln Hautnerven in der Qualität der durch sie vermittelten Empfindungen zum Ausdruck gebracht wird.
Von diesen Empfindungen ist wiederum ein Theil (die sogenannten Tastempfindungen) der Haut (mit Inbegrift der angränzenden Schleimhautpartieen) eigenthümlich, wogegen sich für die übrigen, unter dem Namen der cutanen Gemeingefühle zusammengefassten Empfindungen auch Analogien in den Erregungen anderer, namentlich der visceralen Gefühlsnerven darbieten. Nur die Tastempfindungen sind Sinnesempfindungen, Manifestationen eines Tastsinns, indem sich aus ihnen, wie aus allen übrigen Sinnesempfindungen, nach aussen bezogene, objectivirte Anschauungen (Wahrnehmungen) und Vorstellungen entwickeln: complieirtere Bewusstseinsverände- rungen, wovon wir die Ursachen in der Association zweier oder meh- rerer Empfindungen zu suchen haben. Anschauung und Vorstellung entstehen als höhere Formen des Bewusstwerdens, d. h. als höhere Beziehungsformen des Ich zu den Dingen, aus der niedrigeren, der Empfindung durch eine innerhalb des Bewusstseins sich vollziehende Synthese. *) |
*) „Die Empfindung der Muskelbewegung unserer Tastorgane berührt sich mit der Tastempfindung selbst: daraus entsteht die Anschauung eines die Tastnerven berührenden Gegenstandes. Die Empfindung unserer Bewegung zu den Wärmequellen hin verbindet sich mit der Empfindung der Wärme selbst: so entsteht die Anschauung des wärmenden Gegenstandes, und bei wiederholter Erfahrung die in ihre Bestand- theile, d. h. in einzelne Anschauungen zerlegte Anschauung. Je mehr sich nun die
14 Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
Bekanntlich hat man unter den Tastempfindungen einzelne be- sonders auffällige Nüancen oder Typen als Empfindungsqualitäten (Categorien), alsManifestationen besonderer Sinne oder Sinnesvermögen unterschieden: Ausdrücke, die eigentlich nur so lange eine Berechtigung haben, als man dabei mit verschiedenen specifischen Energien begabte (resp. mit verschiedenartigen Endapparaten zusammenhängende) Ner- venfasern als Träger dieser Vermögen und als Vermittler der ent- sprechenden Empfindungsqualitäten voraussetzt. Gewöhnlich pflegt man, nach dem Vorgange des um die Lehre vom Tastsinn so ver- dienten E. H. Weber diejenigen Empfindungen, welche zu Druck- und Temperaturwahrnehmungen führen, besonders zu classifieiren und „Drucksinn“ und „Temperatursinn“ als verschiedene Vermögen des Tastsinns anzuerkennen. So nothwendig und nützlich diese Un- terscheidung in practischer Hinsicht, auch für die Pathologie, einst- weilen noch ist, so dürfen wir doch den nur relativen Werth derselben nicht aus dem Auge verlieren. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Druck- und Temperaturgefühle durch dieselben Organe vermittelt werden, und nicht unmöglich, dass beide, wie schon Weber vermuthet und Fick und Wunderli”) zu erweisen versucht haben, nur Modificationen einer und derselben Empfindung darstellen. In letzterem Falle wäre es streng genommen ebenso absurd, von einem besondern Drucksinn und Temperatursiun, wie von einem Sinn für rothes oder violettes Lieht, für bittern oder süssen Geschmack u. s. w. zu reden.
$. 9. Alle übrigen durch die Hautnerven vermittelten Empfin- dungen, welche nicht mit objectivirten Druck- und Temperaturwahr- nehmungen einhergehen, fallen unter die Rubrik der eutanen Ge- meingefühle, wohin vorzugsweise die Schmerzempfindungen der Haut, ausserdem die Gefühle von Formicationen, Kitzel, Schauder, Wollust u. Ss. w. gehören. Das Gemeinsame dieser Empfindungen und ihr Unterscheidendes von den eigentlichen Tastempfindungen liegt darin, dass sie nicht, gleich letzteren, unmittelbar auf äussere Reizquellen bezogen, objectivirt werden, sondern sich nur als innere Zustands-
einzelnen Merkmale von einander absondern und beliebig in verschiedenen Verbin- dungen sich reproduciren, desto eher wird die Abstraction des Gegenstandes als eines warmen möglich — und, indem sich dieser Process bei anderen, mit noch anderen Merkmalen versehenen wärmenden Gegenständen wiederholt, bildet sich im weiteren Verlaufe die Vorstellung der Wärme.“ (Cohen, Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewusstseins. Berlin 1869.)
*) Wunderli, Beitrag zur Kenntniss des Tastsinzs, Dissert. Zürich 1860.
Physiologische Leistungen der sensibeln Hautnerven. 15
empfindungen im Bewusstsein erhalten. Eine genetische Differenz besteht ferner darin, dass die cutanen Gemeingefühle (namentlich Schmerz) durch Reizung der sensibeln Nervenfasern an beliebigen Stellen ihres Verlaufes — nicht bloss an ihren peripherischen Enden — produeirt werden können, während die Entstehung von Druck- und Temperaturempfindungen an die terminalen Erregungen der sensibeln Hautnerven (innerhalb des Papillarkörpers) ge- knüpft ist. Jeder auf den Stamm des N. ulnaris einwirkende Reiz (ein. Stoss oder die Kälte) erzeugt, unabhängig von seiner mechani- schen oder thermischen Natur, lediglich Gemeingefühle (Schmerz, Formicationen) — während die homologen Reize von den peripheri- schen Ulnarisenden aus, je nach ihrer Natur, gleichzeitige Druck- oder Temperaturempfindung veranlassen. Hieraus ist keineswegs nothwen- dig zu schliessen, dass die letzteren Empfindungen zum Unterschiede von den Gemeingefühlen durch besondere peripherische Endvorrich- tungen (specifische Sinnesapparate) bedingt oder an besondere, damit zusammenhängende Nervenfasern geknüpft seien. Die Irrationalität einer solchen Unterscheidung beweisen z. B. die sogenannten Wollust- empfindungen, die man übereinstimmend den Gemeingefühlen zuzählt, obgleich die vermittelnden Nervenröhren mit besonderen peripherischen Endapparaten (Krause’s „Genitalnervenkörperchen“, Finger’s „Wollustkörperchen“) an der clitoris und glans penis im Zusammen- hang stehen. Ueberhaupt sind die Tastempfindungen und cutanen Gemeingefühle in letzter Instanz wahrscheinlich nur auf graduell diffe- rirende Erregungszustände der sensibeln Hautnerven zurückzuführen, die erst durch die verschiedene In- und Extensität des secundären centralen (im Bewusstsein vollzogenen) Processes den Anschein ur- sprünglicher, essentieller Verschiedenheit annehmen. Eine beachtens- werthe Stütze findet diese Auffassung in dem Umstande, dass Reize, welche im Normalzustande Druck- oder Temperaturempfindung hervor- rufen, bei excessiver Erregbarkeit der sensibeln Hautnerven keines- wegs entsprechend potenzirte Druck- oder Temperaturempfindungen, sondern unmittelbar Schmerz zur Folge haben, wovon die cutanen Hyperalgesien zahlreiche Beispiele darbieten.
$. 10. Ehe wir zu den pathologischen Zuständen der Haut- sensibilität übergehen, haben wir die speciellen Prüfungsmethoden für die aufgestellten Functionen derselben (Drucksinn, Temperatursinn, Ortsinn, cutanes Gemeingefühl) und den Grad ihrer normalen Lei- stungsfähigkeit kurz zu erörtern.
Zur Bestimmung des Drucksinns dienen variable Druckgrade
16 Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
von bekannter Grösse (Gewichte). Wir können dieselben, nach dem Vorgange von E. H. Weber, in doppelter Weise als Reagens des Drucksinns benutzen. Entweder werden verschiedene Hautstellen gleichzeitig mit identischen Gewichten belastet, und die Versuchsperson hat anzugeben, ob die Druckempfindung an den geprüften Stellen gleich oder ungleich, resp. an welchen Stellen sie stärker oder schwächer ist als an anderen. :Oder es werden verschiedene Gewichte successive auf eine und dieselbe Stelle des Tastorgans applieirt und die Versuchs- person muss die eben merklichen Minima und die eben merklichen Differenzen der Druckempfindung bezeichnen. Durch letztere Methode, welche die wichtigere ist, erfährt man einmal das Minimum der Druckdifferenz, welche an der geprüften Taststelle noch als solche erkannt wird; ferner das absolute Druckminimum, d. h. diejenige minimale Druckgrösse, welche an der Prüfungsstelle noch das Gefühl der Belastung hervorruft. E. H. Weber hat sich bei seinen Versuchen wesentlich mit der Bestimmung der Empfindlichkeit für Druck- unterschiede beschäftigt, und dieselbe im Allgemeinen an der ganzen Oberfläche des Tastorgans ziemlich übereinstimmend, an den nerven- reicheren Partieen (Fingerspitzen, Lippen, Zunge u. s. w.) nur wenig grösser als an den nervenärmeren (Brust, Rücken, Arme u. s. w.) gefunden. So empfinden die Fingerspitzen nach ihm eine Druck- differenz von 29:30, die Vorderarme dagegen nur von 18,2 : 20 (vgl. unten). Das Minimum der Druckempfindung haben Aubert und Kammler*) gemessen und dasselbe nicht nur sehr er- heblichen individuellen Schwankungen unterworfen, sondern auch bei einer und derselben Person an verschiedenen Stellen des Tastorgans ziemlich abweichend gefunden. So entspricht dasselbe einer Belastung von 0,002 Gramm an Stirn, Schläfe, Vorderarm, Handrücken; 0,005 —. 0,015 an den Fingern; 0,04—0, 05 an Kinn, Bauch, ‚Nase; bis zu 1 Gramm an den Nägeln der Finger.
Bei den Drucksinnsprüfungen mittelst Gewichten, wie sie Weber eingeführt hat, sind verschiedene Cautelen zu berückeichtiken. um nicht zu sehr Kahlbrhatten Resultaten zu gelangen. Zunächst muss die Interferenz des Muskelgefühls ausgeschlossen werden, welches die Entstehung von Druckempfindungen wesentlich unterstützt und den Drucksinn der Haut an Schärfe sogar übertrifft. Der zu untersuchende Theil muss daher vor Lageveränderungen und activen Muskelcontrac- tionen. vollständig geschützt sein. Ferner infuirt, bei Messungen der
*) Kammler, Diss. Breslau 1858; Moleschott’s Unters. V. p. 145. _
Physiologische Leistungen der sensibeln Hautnerven. 17
Empfindlichkeit für Druckunterschiede, noch die Länge der zwischen dem suecessiven Auflegen zweier Gewichte verstrichenen Zeit, die Grösse der Berührungsflächen, und endlich die Temperatur der Ge- wichte, indem ein kaltes Gewichtstück ceteris paribus schwerer er- scheint, als ein warmes. Die Zeit zwischen dem Auflegen verschie- dener Gewichte muss daher gleich gross sein, und die Application der Gewichtstüche nieht unmittelbar auf die Haut, sondern auf eine inter- ponirte Fläche von constantem Umfange, die zugleich ein schlechter Wärmeleiter ist (ein hölzernes Brettchen oder ein Stück Pappe u. s. w.) geschehen. Dohrn*) setzte auf die zu prüfende Hautstelle ein unten flaches Stäbchen, welches mit der unteren Fläche einer Wagschale in Verbindung stand, und änderte den Druck durch Auflegen von Ge- wichten auf die eine oder andere Schale. Um den vielen, mit An- wendung von Gewichtstücken verbundenen Inconvenienzen ganz zu entgehen, bediene ich mich seit einiger Zeit eines von mir als Drucksinnsmesser (Barästhesiometer) beschriebenen**) Appa- rates, welcher zur Messung der Empfindlichkeit für Druckunterschiede im physiologischen wie im pathologischen Zustande sehr geeignet erscheint.
Die prüfende Vorrichtung besteht aus einer Spiralfeder, durch deren schwächere oder stärkere Anspannung auf eine angeschraubte Hartkautschoukplatte ein variabler Druck ausgeübt wird, ohne dass es nöthig ist, diese Platte von der untersuchten Taststelle zu entfernen. Es ist daher Temperatur und Contactfläche etc. bei ver- schiedener Druckstärke ganz unveränderlich; auch kann der Druck auf jeden Körper- theil in beliebiger Lage und in den verschiedensten Richtungen (horizontal, vertical, schräg, oder von unten nach oben) ausgeübt werden, während bei Belastung mit Gewichten nur ein verticaler Druck herzustellen ist.
Die Spiralfeder liegt in einer neusilbernen Hülse und wird durch eine Leitstange nach Belieben bei dem Aufsetzen des Instruments mehr oder weniger stark zusam- mengedrückt. Durch ein mit der Leitstange zusammenhängendes Zahnrad wird ein Zeiger in Bewegung gesetzt, welcher auf einem graduirten Zifferblatte den Spannungs- grad der Feder, resp. die Stärke des auf die Taststelle geübten Druckes angiebt. Die Eintheilung des Zifferblattes ist empirisch auf einer Waagschale so ausgewogen, dass der Ausschlag des Zeigers die jedesmalige Belastung in Grammen anzeigt. Comprimirt man also z. B. so weit, dass der Zeiger auf 100 einsteht, so ist die Feder derartig gespannt, dass der Druck, welchen die Hartkautschoukplatte auf die Taststelle ausübt, = 100 Gramm ist. Man sieht nun zu, wie weit man die Feder an- oder abspannen muss, um einen merklichen, im ersteren Falle positiven, im letzteren negativen Empfindungszuwachs zu erhalten. Fühlt die Versuchsperson eine Zunahme des Druckes, wenn der Zeiger auf 105, oder eine Abnahme, wenn er auf
*) Diss. Kiel 1859; Zeitschr. f. rat. Med. X, p. 337. **) Ein vereinfachtes Verfahren zur Drucksinnsmessung. Berliner klinische Wochenschrift 1869 Nr. 44.
Eulenburg, Nervenkrankheiten. 2
18 Neurosen der Tast- und Gefuhlsnerven.
95 steht, so kann sie an dieser Stelle eine Druckdifferenz von z'; noch unterscheiden. Fühlt sie eine Zunahme erst bei 150, oder eine Abnahme erst bei 50, so kann sie
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nur noch Druckdifferenzen von mindestens $ wahrnehmen. Werden erst 100 und 300 unterschieden, so wächst der Bruch auf 398 = }; die Empfindlichkeit für Druck- unterschiede ist also dann 40mal geringer als im ersten Falle, wo noch ;', erkannt wurde, u. S. w.
Die mit diesem Instrumente angestellten Versuche an Gesunden ergaben übereinstimmend, dass die Empfindlichkeit für Druckunter- schiede im Gesichte am grössten ist, und zwar besonders an der Stirn, demnächst an den Lippen, am Zungenrücken, an Wange und Schläfe. Hier wird meist eine Druckdifferenz von "/;, (z. B. 300 und 310 Gramm) — oft selbst von Yo (z. B. 200 und 205 Gramm) noch deutlich ge- fühlt. Für die oberen Extremitäten lässt sich etwa folgende Scala entwerfen: Dorsalseite der letzten Fingerphalanx ; Dorsalseite des Vorder- arms, Handrücken und Dorsalseite der 1. und 2. Phalanx; Volarseite der Finger, Volarseite der Hand und des Vorderarms, Oberarm. Die Unterschiede sind jedoch an allen diesen Stellen nicht sehr erheblich: der noch merkliche Empfindungszuwachs schwankt nur zwischen Yso (200 und 210) und Yo (200 und 220). An den unteren Extremi- täten scheinen die vordere Seite des Unter- und Oberschenkels die feinste Empfindlichkeit für Druckunterschiede zu besitzen, die fast der des Vorderarms gleichkommt; dann folgen Fussrücken und Dorsalseite der Zehen; weit schwächer ist die Empfindlichkeit an der Plantar- fläche der Zehen, an der Fusssohle und an der hinteren Seite des Ober- und Unterschenkels. Natürlich müssen auch hier, namentlich bei Prüfungen an den Extremitäten, die zu prüfenden Körpertheile gleichmässig fixirt sein, und auf einer festen Unterlage vollkommen gestützt aufruhen, um eine störende Interferenz des Muskelgefühls zu vermeiden.
$. 11. In einer von der Weber’schen Methode ganz abweichen- den, geistreich ersonnenen Weise hat Goltz*) den Drucksinn der Haut zu messen gesucht. Von der Thatsache ausgehend, dass wir den Puls unserer Art. radialis (und ebenso anderer Körperarterien ) nicht mit der darüberliegen Haut, wohl aber beim Pulsfühlen mit der angelegten Haut der Fingerspitzen empfinden, construirte er einen Apparat, an welchem sich künstlich Pulswellen von variabler Stärke hervorbringen liessen, und bestimmte damit das Druckminimum in Gestalt der schwächsten Welle, die an der zu prüfenden Hautstelle
*) Ein neues Verfahren, die Schärfe des Drucksinns der Haut zu prüfen. Centralblatt f. d. med. Wissensch. 1868. Nr. 18.
Physiologische Leistungen der sensibeln Hautnerven. 19
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noch eben gefühlt wurde. — Der Apparat besteht in einem prall mit Wasser gefüllten, an beiden Enden geschlossenen Kautschoukschlauch. An dem einen Ende erzeugt der Beobachter durch rhythmisches Auf- drücken von bestimmter messbarer Stärke Wellen, während die Ver- suchsperson am anderen Ende des Schlauchs die zu prüfende Haut- stelle anlegt, und die Wellen, sofern sie ihren Puls fühlt, zu zählen hat. Um immer dieselbe (und zwar eine möglichst kleine) Fläche des Schlauchs mit der Haut in Berührung zu bringen, wird. das eine Schlauchende in Form einer Schlinge über einem runden Kork be- festigt, und die Kuppe der Schlauchschlinge zur Anlegung an die Tastfläche verwerthet.
Goltz fand, nach dieser Methode, den Drucksinn an verschie- denen Stellen sehr ungleich entwickelt, und zwar in einer ganz ähn- lichen Scala wie den Raumsinn (vergl. unten): mit der einzigen Aus- nahme, dass der Raumsinn an der Zungenspitze am feinsten ist, wo- gegen der Drucksinn an letzterem Orte schwächer ist, als an den Fingerspitzen. Es stimmen demnach diese Ergebnisse überein mit denen von Aubert und Kammler, welche ebenfalls.örtliche Verschie- denheiten des Druckminimums nachwiesen. Wenn Goltz seine Re- sultate im Widerspruch findet mit den Angaben von Weber, denen zufolge der Drucksinn überall ziemlich gleich fein ist, und die ab- weichenden Angaben Weber’s der Mangelhaftigkeit der von Letzte- rem eingeschlagenen Methoden zuschreibt, so scheint mir dieses Ur- theil doch nicht ganz gerechtfertigt. Ein wirklicher Widerspruch zwischen den Beobachtungen von Weber und Goltz existirt gar nicht, da, wie schon erwähnt wurde, Weber die Empfindlichkeit für Druck- unterschiede, @oltz nur das Druckminimum durch Messung bestimmte. Es ist aber sehr wohl möglich, dass zwei Hautstellen annähernd gleiche Druckunterschiede als solche empfinden, während die für beide Stellen wirksamen minimalen Druckreize weit von einander entfernt liegen. Die mit Goltz übereinstimmenden Resultate von Aubert und Kammler, die sich des Weber’schen Verfahrens bedienten, lehren am besten, dass jener scheinbare Widerspruch nicht aus der Verschiedenheit der zur Drucksinnsprüfung angewandten Methoden, sondern vielmehr aus der zu wenig gewürdigten substantiellen Verschie- denheit des Prüfungsobjeetes hervorgeht.
$. 12. Bei den Messungen des Temperatursinns kann es sich nur darum handeln, die Empfindlichkeit für Temperatur- unterschiede zu ermitteln, d. h. diejenige minimale Temperatur- differenz, die an einer Hautstelle noch als solche gefühlt wird. Nach
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20 Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
Weber, welchem wir die ersten Untersuchungen auch auf diesem Gebiete verdanken, sind die physiologischen Differenzen des Tempe- ratursinns an verschiedenen Hautstellen nicht sehr beträchtlich. Am empfindlichsten für Temperaturdistanzen ist die Gesichtshaut (nament- lich Augenlider und Backen), ferner die Zunge; der Handrücken ist empfindlicher als die Volarseite; die Medianlinie des Gesichts und Rumpfes empfindlicher als die seitlich gelegenen Partien. Die mi- nimale Temperaturdistanz, die noch als solche empfunden wird, be- trägt an den Fingerspitzen %, (unter Umständen selbst Y,—Y)"R. Die absolute Höhe der zu vergleichenden Temperaturen ist nach Weber nicht von erheblichem Einflusse. Fechner fand dagegen, dass die Feinheit des Temperatursinns oberhalb + 20 und unterhalb + 10’ R. allmälig abnimmt. Nach Nothnagel*) beginnt die Ab- nahme bereits bei + 33 und 27° C., die Empfindlichkeit für Tem- peraturunterschiede ist also zwischen 33 und 27° C. am grössten. Innerhalb dieser Gränzen fand Nothnagel an sich selbst das noch wahrnehmbare Minimum der Temperaturdifferenz: auf der Brust 0,4°; am Rücken 0,9°; am Handrücken 0,3°; an der Hohlhand 0,4°; am Vorder- und Oberarm 0,2°; am Fussrücken 0,4°; am Unterschenkel 0,6°; am Oberschenkel 05°; an der Wange 0,4—0,2°; an der Schläfe 0,4—03°. Diese Resultate sind also auch mit den Ergebnissen We- ber’s im Ganzen übereinstimmend.
Was die Prüfungsmethoden betrifft, so liessen die älteren Unter- sucher den zu prüfenden Theil (z. B. den Finger) schnell hinterein- ander in Wasser von verschiedener Temperatur emtauchen. Weber benutzte auch mit Oel gefüllte Glasphiolen, die in verschiedenem Grade erwärmt waren und auf die zu prüfende Hautstelle aufgesetzt wurden, sowie Metallstäbe von verschiedener Temperatur. Ich habe schon vor längerer Zeit eine Vorrichtung (Thermästhesiometer) beschrieben, welche in bequemer Weise und ohne Zeitverlust die Maassbestimmung namentlich gröberer pathologischer Abweichungen des Temperatursinns an Jeder Stelle der Hautoberfläche gestattet.””)
An ein Stativ (als welches der horizontale Arm eines Sieve- king’schen Aesthesiometers dient) werden zwei Thermometer mit grossen Gefässen angeschraubt, deren möglichst breite und ebene End-
*) Beiträge zur Physiologie und Pathologie des Temperatursinns, Archiv f. klin. Med. Heft 3. p. 283 — 2%.
»*) Ein Thermästhesiometer, Berliner klinische Wochenschrift, 1866 Nr. 46. — Das Instrument dürfte (mit geringen Abänderungen) auch zur Messung des Wärmeortsinns benutzt werden können.
Physiologische Leistungen der sensibeln Hautnerven. 21
flächen in variablem Abstande von einander gegen die Haut angedrückt ‘werden können. Man bringt beide Thermometer auf weit von einan- der entfernte Temperaturgrade, setzt sie auf, und beobachtet, wann die Versuchsperson aufhört, die Differenz der beiden Temperaturen, welche sich allmälig ausgleichen, noch zu empfinden. Die Grösse dieser Differenz kann man an den Thermometern ablesen, und so die Empfindlichkeit für Temperaturunterschiede an der geprüften Haut- stelle bestimmen. — Nothnagel prüfte den Temperatursinn durch Aufsetzen mit Wasser gefüllter Kupfereylinder, welche an den Seiten mit einer schlecht leitenden Schicht umgeben waren, und durch eine Oeffnung im Deckel eingeführte Thermometer enthielten.
$. 13. Der Ort- oder Raumsinn kann, ebenso wie das cutane Gemeingefühl, durch Hautreize verschiedener Art geprüft werden, da es sich hier nicht um die Wahrnehmung bestimmter Empfindungs- qualitäten, sondern um die richtige Localisirung des empfangenen Eindrucks handelt. Natürlich gewinnt die Probe an Genauigkeit, je weniger umfangreich die vom Reize getroffene Hautstelle, je kleiner also die Zahl der gleichzeitig gereizten Nervenenden ist; daher wer- den am besten sehr dünne und spitze Körper (z. B. eine Nadel) zu der Untersuchung verwerthet. Der Ortsinn einer Hautstelle gilt für um so feiner, je geringer der bei der Localisation begangene Irrthum ausfällt. — Diese am Krankenbette häufig geübte Methode liefert selbstverständlich nur ungefähre Anhaltspunkte, die eines numerischen Ausdrucks und einer darauf basirten vergleichenden Controle nicht fähig sind. Zu letzterer eignet sich dagegen das von Weber für Ortsinnsprüfungen eingeführte Verfahren: Die Grössenbestimmung der sogenannten Tastkreise oder Empfindungskreise, d.h. der Mi- nimaldistanzen, innerhalb deren zwei, gleichzeitig in variablen Ab- ständen auf die Haut einwirkende Reize noch als räumlich gesondert aufgefasst werden. Diese Minimaldistanz wird als Durchmesser eines (fingirten) Empfindungskreises bezeichnet. Werden die beiden Erreger einander noch über diese Minimaldistanz hinaus genähert, und liegen sie also innerhalb des Empfindungskreises selbst. so muss eine Verschmelzung der beiden Localeindrücke zu einem einzigen stattfinden. Nach Weber ist eine solche Verschmelzung dann aus- geschlossen, wenn zwischen den erregten Nervenenden eine gewisse Anzahl nicht erregter Nervenröhren mit ihren Ausbreitungen gele- gen ist; die örtliche Grössenverschiedenheit der Empfindungskreise entspricht also der Summe nicht erregter Nervenröhren, welche zwi- schen den erregten gelegen sein müssen. Nach der von Wundt
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modifieirten Lotze’schen Theorie der Localzeichen*) dagegen nennen wir Empfindungskreis einen Hautbezirk, innerhalb dessen die locale Empfindungsbeschaffenheit sich so wenig verändert, dass die Eindrücke verschmelzen.
Die Messung der Empfindungskreise geschieht durch einen mit graduirter Scala versehenen Tastereirkel oder ähnliche Apparate. Sehr brauchbar ist der von Mosler empfohlene Sieveking’sche Aesthesiometer, mit zwei parallelen, senkrecht stehenden Zähnen, wovon der eine befestigt, der andere auf einem graduirten Messing- balken verschiebbar ist”*). Weber fand bekanntlich, dass die Mi- nimaldistanzen der Doppelwahrnehmung (Durchmesser der Empfin- dungskreise) im Normalzustande an verschiedenen Hautstellen sehr beträchtliche Differenzen darbieten. Die von ihm vorgenommenen Messungen ergaben bei Erwachsenen für die verschiedenen Regio- nen des Tastorgans folgende Scala:
Zungenspitze . . . NEUE (Par), 2 tor me Volarseite der letzten Fineerphalanz 2 us a Maya Rother Lippensaum, Volarseite der 2.
Phalanx >09: IRRE ESTER. ARBEIT RA Nasenspitze; 3. Phalı 3 ET - Zungenrücken, Lippen, Metacarpus poll“
eis 4 — Plantarseite a. Tele Phalany der
grossen Zehe, Dorsalseite der 2. Fin-
gerphalanx, Backen, Augenlidee . . 5 = Ra Harter Gaumen .... .; 6 — ae Haut auf dem vorderen Theile de air
beins, Plantarseite des Metatarsus
hallueis, Dorsalseite der 1.
phalans a — Alban Dorsalseite der Bein OSS. . Metararpi. oe — 80 Innere Oberfläche der Lippen . . 3 202 Haut auf dem hinteren Theile des J sch
beins, unterer Theil der Stirn, Ferse 10 I SD OR Behaarter unterer Theil des Hinter-
haupts see at ER ER = ‚27.00:
*) Lotze, Med. Psychologie; Wundt, Beiträge zur Theorie der Sinneswahr- nehmung, 1. Abhdlg. Leipzig und Heidelberg 1862.
*) British and for. med. chir. rev. 1858. — Vgl. Mosler, Archiv der Heil- kunde 1863. p. 88; Eulenburg, Berl. klin. Wochenschr. 1865. Nr. 52.
Physiologische Leistungen der sensibeln Hautnerven. 23
Elandetielen kp Be —=#.,34,5: Mm Hals unter dem Et Scheitel ae 548 BT Kniescheibewi ..., 0... 6 —1130:0, 22 Kreuzbein, Gesäss, nn ner:
Schenkel, Hussrucken.“. 12, +. ..2:2 2 18% ANDRE: Brustben ı. =... RB 30120 ==\n49,000 + Mittellinie des Rriokens! Fu 24— 30 — 44—717,5 - Mitte des Oberarms und Berschenkeis 304 STD N
Bei dieser Tabelle ist zunächst im Auge zu behalten, dass die „Empfindungskreise “ ihren Namen insofern mit Unrecht führen, als sie nicht wirkliche Kreise, sondern in Wahrheit mehr oder minder unregelmässig gestaltete Hautbezirke darstellen, deren Durchmesser daher nach verschiedenen Richtungen hin öfters sehr ungleiche Grösse besitzen. Die obigen Zahlen entsprechnn nur den grössten Durch- messern dieser Bezirke. An den Extremitäten z. B., wo die Tast- kreise sich einem nach der Längsrichtung der Glieder gestreckten Ellipsoid nähern, können die Angaben der Tabelle nur bei longitu- dinalem, nicht aber bei transversalem Aufsetzen der Cirkelspitzen eine ungefähre Geltung beanspruchen. Bei Kindern sind natürlich die Durchmesser der Tastkreiso viel kleiner, als bei Erwachsenen, wie Goltz und Czermak durch Messungen bestätigten*). Abgesehen von den individuellen Unterschieden, die ziemlich bedeutend sind, zeigen sich überdies, wie besonders Volkmann”*) hervorgehoben hat, auch bei einer und derselben Versuchsperson, Je nach dem Grade der Aufmerksamkeit und Uebung, sehr beträchtliche temporäre Schwankungen. Der Ortsinn einer beliebigen Hautstelle ist durch Uebung einer erheblichen Verfeinerung fähig, und zwar macht sich der Einfluss dieses Momentes verhältnissmässig sehr rasch geltend; die Minimaldistanz der Doppelwahrnehmung wächst, bei gehöriger Aufmerksamkeit, mit jeder neuen Versuchsreihe. Werden diese Uebungen nur an einer Körperhäfte ausgeführt, so wächst der Ort- sinn merkwürdigerweise auch an den symmetrischen Stellen der an- deren Körperhälfte! Diese und andere Verhältnisse, deren detaillirte Erörterung hier zu weit führen würde, erfordern bei pathologischen Untersuchungen die eingehendste Kenntniss und Berücksichtigung; sie beeinträchtigen übrigens den Werth der Methode an sich keines-
*) Goltz, Diss. Königsberg 1858; Czermak, Sitzungsbericht der Wiener Academie, Band 15. und 17.
**) Bericht der sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig 1858. Bd.’ p. 88.
24 Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
wegs, sondern können, geschickt angewandt, die Brauchbarkeit der- selben sogar noch erhöhen, indem z. B. nicht nur die primären Grössenverhältnisse der Tastkreisdurchmesser, sondern auch die durch Uebung herbeigeführten seeundären Modificationen derselben werthvolle Anhaltspunkte darbieten. Ueberhaupt giebt es wohl kaum eine zweite Methode der Sensibilitätsprüfung, wobei der Erfolg so wesentlich von dem Wie? der Untersuchung und von der beständigen Kritik des Be- obachters abhängt. Flüchtige und oberflächliche Ortsinnsprüfungen, wie man sie nur zu häufig sieht, sollten lieber ganz unterbleiben, da sie nur willkürliche und gefälschte Resultate liefern könnern, und dadurch zu den grössten Verwirrungen und Selbsttäuschungen Ver- anlassung geben. „Il vaut mieux n’observer pas du tout, que faire de mauvaises observations “ (Arago). |
Mit Recht hat Rauber”*) neuerdings darauf aufmerksam gemacht, dass durch die Weber’sche Cirkelmethode eigentlich nur der Berührungs- oder Druckortsinn, nicht aber der Wärmeortsinn der Haut bestimmt wird, welcher dem ersteren keines- wegs nothwendig proportional zu sein brauchte. Diese Lücke hat Rauber auszu- füllen gesucht, indem er für die verschiedenen Hautstellen auch die Durchmesser der „Wärmeempfindungskreise“ in ähnlicher Weise bestimmte, wobei sich dieselben im Allgemeinen mit den Durchmessern der Tastkreise übereinstimmend fanden.
Ein von dem Weber ’schen abweichendes Verfahren der Raum- sinnsprüfung ist von Fechner**) vorgeschlagen, welcher es als „Methode der Aequivalente“ bezeichnet. Zwei Cirkel werden auf verschiedene Hautstellen aufgesetzt; die eine Cirkelweite dient als Muster; die andere soll ihr dem Urtheile, der Schätzung nach gleichgemacht werden. »So werden Aequivalente gleich gross ge- schätzter Distanzen für beide Hautstellen erhalten, die „extensive Empfindlichkeit“ derselben gemessen. Dieses Verfahren soll nach Fechner in hohem Grade genau sein.
$. 14. Die eutanen Gemeingefühle können, der Mannich- faltigkeit der unter diese Bezeichnung subsumirten Empfindungen entsprechend, nach verschiodenen Richtungen hin (für einfache Berüh- rung, Kitzel, Schmerz u. s. w.) geprüft werden. Zur ungefähren Orientirung genügt es, den Zustand des Berührungs- und Schmerz- gefühls durch Berührung mit einem Haare oder Pinsel, durch Kitzeln, Kneipen, Stechen ete. zu untersuchen. Bei derartigen Proceduren ist jedoch von einer vergleichbaren und controlirbaren Messung nicht die Rede. Das vorzüglichste Reagens für die eutanen Gemeingefühle
”) Ueber den Wärme-Ortssinn, Centralblatt 1369. Nr. 24. **) Elemente der Psychophysik, Leipzig 1860.
Physiologische Leistungen der sensibeln Hautnerven. 25
ist der eleetrische Strom, namentlich in Form intermittirender, inducirter Ströme, welche bekanntlich zuerst Duchenne zu diagnosti- schen Zweeken methodisch auf die Haut (wie auf andere 'Körpertheile) localisirt hat. Die eleetrischen Hautsensationen sind unzweifelhaft Gemeingefühle, da sie mit keiner Druck- oder Temperaturwahrneh- mung einhergehen und nicht objectivirt, sondern als innere Zustände der Empfindungsnerven selbst aufgefasst werden; sie stellen gleich- sam eine Scala der Gemeingefühle von den leichtesten, unbestimm- testen Empfindungen, Formicationen u. s. w. bis zum heftigsten Schmerz dar. Der Hauptwerth des electrischen Stromes als Reagens für die eutanen Gemeingefühle besteht darin, dass derselbe eine sehr feine Abstufung des messenden Reizes und daher eine genaue, auf numerische Werthe zurückführbare Schätzung der Reactionsstärke gestattet. Man pflegt die Erregbarkeit der sensibeln Hautnerven für den electrischen (indueirten) Strom als eleetrocutane Sensibilität zu bezeichnen. Obwohl bereits Duchenne und seine Nachfolger dem Verhalten der eleetrocutanen Sensibilität in Krankheiten grosse Aufmerksamkeit schenkten, so hat doch eigentlich erst Leyden*) den Punkt, auf welchen es (nach Analogie mit anderen Empfindungs- prüfungen auch hier wesentlich ankommt, richtig formulirt: nämlich die Bestimmung des Empfindungsminimums, der kleinsten, an einer Hautstelle noch wahrnehmbaren Reizgrösse. Nur so kann von einer wirklichen Messung die Rede sein, während man sich früher bei Angaben über die electrocutane Sensibilität lediglich mit vagen und willkürlichen Abschätzungen begnügte.
Zur Bestimmung des Empfindungsminimums dienen Inductions- ströme eines mtt Millimeterscala versehenen, du Bois-Reymond’- schen Schlitten -Magneteleetromotors; und zwar entweder Oeffnungs- schläge oder noch bequemer (wiewohl in den Resultaten etwas we- niger constant) tetanisirende Ströme der secundären Spirale. Zur Application auf die Haut dienen stumpfe, strieknadeldünne Electro- den, welche in gleichbleibendem (1 Ctm.) Abstand von einander an einem Cirkel befestigt sind. — Leyden und Munck fanden bei ihren (an sich selbst vorgenommenen) Untersuchungen die Differen- zen des Empfindungsminimums an verschiedenen Hautstellen relativ gering: weit geringer als die denselben Hautstellen zukommenden Differenzen des Raumsinns. Mit Ausschluss der Zunge, wo das
*) Untersuchungen über die Sensibilität im gesunden und kranken Zustande, Virchow’s Archiv XXXI. p. 1— 34.
26 Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
Empfindungsminimum einem Rollenabstande von 145 resp. 180 Mm. entsprach, schwankten die örtlichen Abweichungen an der ganzen Körperoberfläche nur zwischen 70 und 20, resp. 120 und 65 Mm. — Constant zeigte sich folgende Scala: Zunge (Spitze, Rücken) und Lippen; Gesicht; Rumpf und obere, dann untere Extremitäten. An den Gliedmassen zeigte sich Abnahme der Empfindlichkeit von Ell- bogen und Knie nach den Finger- und Zehenspitzen; an der Dorsal- seite der Finger, Unterfläche und Zwischenfläche der Zehen war die Empfindlichkeit grösser. Nach Lombroso*) (der aber nicht sowohl das Empfindungsminimum, als die electrische Schmerzempfindung überhaupt prüfte) zeigen Zahnfleisch, glans penis, Brustwarze, Zunge, Lippen und Gesicht die stärksten eleetrischen Schmerzempfindungen. Die Vorderseite des Rumpfes ist empfindlicher als die Hinterseite; am wenigsten empfindlich die Planta pedis. Diese regionären Unter- schiede erklären sich theils aus der relativen Dicke der Epidermis, theils aus der Quantität und Qualität der Nerven. Punkte, wo Ner- ven oberflächlich endigen, sind am schmerzhaftesten; so namentlich die Ausbreitungen der sensibeln Fäden des Trigeminus. Frauen und intelligente Personen zeigen eine grössere Empfindlichkeit. Die in- dividuellen Schwankungen sind überhaupt bei dieser Methode ziem- lich bedeutend. Wahrscheinlich sind auch sie zum grossen Theile bedingt durch die verschiedene Dicke der Epidermis. Auch bei einer und derselben Versuchsperson ist nach Entfernung der Epidermis oder nach einem warmen Bade das Empfindungsminimum kleiner. — Eine Schwierigkeit in der Verwerthung dieser Methode erwächst ferner daraus, dass die von verschiedenen Beobachtern angewandten Strom- quellen und somit die als prüfender Reiz benutzten Electrieitäts- mengen sehr ungleicher Art sind. Es können daher streng genom- men immer nur die Resultate desselben Beobachters bei verschiede- nen Versuchspersonen (und auch diese nur approximativ), niemals äber die Resultate verschiedener Beobachter mit einander in Pa- rallele gestellt werden.
*) Algometria elettrica ‘nell’ uomo sano ed alienato, annali univ. vol. 200. p. 102 — 121.
Cutane Hyperalgien und Paralgien. 27
Tastsinnsverschärfung (Hyperpselaphesie); eutane Hyperalgien und Paralgien.
8.15. Eine die physiologischen Gränzen überschreitende, krank- hafte Verschärfung des Tastsinns, die wir als Hyperpsela- phesie (von bndayaw, tasten) bezeichnen können, ist zwar öfters angenommen, aber nur in den seltensten Fällen durch die objective Untersuchung erwiesen worden.
Es müssen in solchem Falle die im Vorigen beschriebenen Prüfungsmethoden eine ungewöhnliche Verfeinerung der Tastfunetio- nen ergeben; und zwar können die Symptome einer Verfeinerung des Drucksinns, des Temperatursinns, oder des Raumsinns ent- sprechen.
Es kann also die Empfindlichkeit für Druckdifferenzen excessiv sein, so dass ein abnorm geringer Empfindungszuwachs (z. B. geringer als 1/0) noch erkannt wird; oder es kann das eben merkbare Druck- minimum stellenweise kleiner als normal sein.
Es kann ferner die Empfindlichkeit für Temperaturdifferenzen innerhalb der Zone der genauen Wahrnehmung excessiv sein, so dass Unterschiede von weniger als +" R. noch als solche gefühlt wer- den. Dies wird z. B. bei Verdünnung der Epidermis mittelst Vesi- cation beobachtet. In einzelnen Fällen von Zoster, und bei Dege- ration der Hinterstränge (Tabes dorsualis) scheinen mitunter wirk- liche Verfeinerungen des Temperatursinns vorzukommen. Geringe Normüberschreitungen dürfen übrigens weder bei den Temperatur- noch bei den Druckempfindungen als pathologische gelten, da die physiologischen Bestimmungen noch sehr schwanken.
Endlich können die Durchmesser der Tastkreise erheblich klei- ner ausfallen, als sie im Normalzustande bei gleichaltrigen Personen und an den entsprechenden Hautstellen zu sein pflegen. Dies wird z. B. bei Blinden (Czermak) beobachtet, von denen man mit Recht zu sagen pflegt, dass sie den Mangel des Gesichtsinns durch eine vica- rürende Ausbildung des Tastsinns ersetzen. Als eine wirkliche Raum- sinnshyperästhesie ist das seltene Phänomen zu betrachten, dass bei Aesthesiometerprüfungen innerhalb gewisser Distanzen 3 Spitzen ge- fühlt werden, wenn nur 2, — oder 2 Spitzen, wenn nur eine aufge- ‚setzt wurden. Dieses Phänomen wurde bisher nur in Verbindung mit Symptomen beobachtet, welche auf eine basale Hirnerkrankung
28 Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
(Congestion, Entzündung oder Tumor) hinwiesen; nach Brown- Sequard”) besonders bei Heerderkrankungen in einem der Crura cerebri oder einer Seitenhälfte des Pons, wofür jedoch noch keine bestätigenden Sectionsbefunde vorliegen. Die Anomalie zeigte sich in der Mehrzahl der Fälle ausschliesslich im Gesichte, seltener auch am Halse und den Extremitäten. Bei geringen Circelabständen fühl- ten die Kranken zwei Spitzen oder selbst nur eine; bei grösseren Distanzen aber deutlich 3 Spitzen. — Brown-Sequard vermuthet, dass es sich in den hierhergehörigen Fällen um eine Neubildung von Zellen in den Nervencentren handelt, und die neugebildeten Zellen mit präexistirenden Nervenröhren in Verbindung treten.
Oertliche Hyperästhesien der Tastnerven können durch gewisse Applieationsweisen des constanten Stroms herbeigeführt werden, wie Nadedja-Suslowa”*) gezeigt hat. Dieselbe fand an der Kathode nicht nur die Empfindlichkeit für Reizung mit einem Pinsel erhöht, sondern auch das Kältegefühl bei Berührung der Haut mittelst eines mit Eis gefüllten Reagensgläschens. Würde der Strom in Längsrich- tung durch den Arm geleitet, so war auch die Möglichkeit, zwei Spitzen getrennt zu empfinden, an der Kathode erhöht. Nach der- selben Autorin wird auch die Feinheit des Unterscheidungsvermögens für distinete Tasteindrücke sehr gesteigert, wenn man die Hand in indifferente Flüssigkeiten (Wasser oder Oel) von der Temperatur der Hand eintaucht.
Sehr interessant ist die von Alsberg***) gefundene Thatsache, dass bei künstlich hervorgerufener örtlicher Anämie durch Hochlegen der Extremität eine Verfeinerung des Temperatursinns um 0,1—0,3’R. eintritt, während dagegen der Raumsinn an der entsprechenden Haut- stelle eine Verminderung erleidet. Alsberg glaubt die letztere einer durch die Anämie herbeigeführten Spannungsabnahme der Haut zu- schreiben zu müssen.
Es geht aus diesen Versuchen hervor, dass Drucksinn, ner ratursinn und Raumsinn der Haut nicht und proportional verschärft zu sein brauchen; dass im Gegentheil neben Verschärfung des einen sogar Abstumpfung des anderen vorhanden sein kann, wie die pathologische Beobachtung bei den sogenannten partiellen Empfin- dungslähmungen vielfach bestätigt.
*, Arch. de phys. I. 3. p. 461, 1868. *) Henle und Pfeuffer’s Zeitschr. (8) XVIL p. 155 - 160. ”**) Dissert. Marburg 1803.
Cutane Hyperalgien und Paralgien. 99
Der Nachweis einer krankhaften Hyperästhesie im Gebiete der Tastnerven kann, wie gesagt, nur mittelst genauer objectiver Erhe- bungen, niemals auf Grund subjectiver Angaben der Kranken geführt werden. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle wird man sich im Gegentheil da, wo man nach den subjectiven Symptomen eine pathologische Tastsinnsverschärfung erwartet (z. B. bei Hyste- rischen) oft bei der objectiven Untersuchung enttäuscht finden. — Als ein subjeetives Gefühl, welches häufig auf einer wirklichen Druck- sinnshyperästhesie beruht, glaube ich die als „nervöses Herzklopfen“ und „Gefässklopfen “ bezeichnete Sensation ansprechen zu müssen. Ich erinnere hier an die bereits früher erwähnte Argumentation von Goltz, wonach die Thatsache, dass wir z. B. mit der Volarhaut der Finger den Radialpuls fühlen, mit der über der Arterie verlaufenden Vorderarmhaut dagegen nicht, in einer verschiedenen physiologischen Schärfe des Drucksinns an den genannten Stellen ihren Grund hat. Wir können nun den Herzstoss, das Klopfen unserer Radialarterie, unserer Temporalis u. s. w. unter doppelten abnormen Bedingungen wahrnehmen: einmal, wenn die sensibeln Hautnerven, welche die Druckempfindung vermitteln, durch stärkeren Herzstoss, stärkere hindurchgehende Blutwellen in den Gefässen in abnorme Erre- gung versetzt werden; sodann aber auch, wenn ihre Erregbarkeit pa- thologisch erhöht ist, so dass Reize, welche unter dem normalen Druckminimum liegen, bereits deutliche Druckempfindung hervor- rufen. Es handelt sich in den letzteren Fällen um eine Druck- sinnshyperästhesie, wobei das absolute Druckminimum verkleinert ist. Die Empfindlichkeit für Druckunterschiede kann dabei möglicher- weise normal sein; die auf Prüfung der letzteren gerichteten Unter- suchungsmethoden können daher negative Resultate liefern. Dass eine solche eutane Hyperästhesie in manchen Fällen von nervösem Herz- oder Arterienklopfen in der That vorliegt, scheint auch aus den the- rapeutischen Adjuvantien (namentlich aus der günstigen Einwirkung lo- caler sensibilitätsvermindernder Mittel, z.B. der Kälte) hervorzugehen.
$. 16. Weit häufiger sind diejenigen Formen cutaner Hyper- ästhesie, wobei es sich um excessive Reactionen in der Sphäre des Gemeingefühls, um cutane Hyperalgie, handelt.
Da Schmerz im Allgemeinen die heftigere Reactionsform der Ge- fühlsnerven überhaupt, wenn auch mit sehr erheblichen graduellen
30 Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
Unterschieden, darstellt, und da sich die Hyperalgien eben durch eine dem einwirkenden Reize inadäquate, excessive Reaction der Gefühls- nerven charakterisiren: so werden sich dieselben vorzugsweise als örtlich erhöhte Schmerzempfindlichkeit, also in Form der Hyper- algesie, kundgeben.
Bei excessiver Erregbarkeit der eutanen Gefühlsnerven, welche die Grundbedingung der Hyperalgesie ist, werden zunächst Reize, die sonst nur die leichteren Reactionsformen (z. B. Gefühl von Berührung überhaupt oder Kitzel) hervorrufen, bereits merkliche, mehr oder min- der intensive Schmerzempfindung veranlassen. Man kann sagen, das # absolute Schmerzminimum sei bei diesen Zuständen kleiner als nor- ® mal — wie bei Hyperpselaphesie das absolute Druckminimum oder die Tastkreisdurchmesser kleiner als normal sind.
Es werden jedoch bei Hyperalgesien nicht bloss Reize mit Schmerz beantwortet, welche sonst die leichteren Formen des eutanen Gemein- # gefühls hervorrufen — sondern auch Reize, welehe ihre Einwirkung # im Normalzustande anscheinend nicht durch Gefühls-, sondern nur durch Tastempfindungen im Bewusstsein kundgeben. 1
Die Berührung der Haut mit einem Tropfen kalten Wassers z.B. # erweckt unter normalen Verhältnissen deutliche Temperaturempfindung, # aber keinen Schmerz; bei excessiver Erregbarkeit der eutanen Ge- # fühlsnerven entsteht dagegen eine mehr oder minder intensive Schmerz- empfindung, neben welcher die Temperaturempfindung noch unter- | scheidbar einhergehen kann, oder auch bei grösserer Heftigkeit des # Schmerzes für das Bewusstsein nicht selten völilg verschwindet. # Leise Berührung, ja selbst schon entferntes Anblasen einer Hautstelle, # welche sonst nur die leichtesten Nuancen von Druckempfindung # hervorrufen, können im hyperalgetischen Zustande die heftigsten # Schmerzempfindungen auslösen. Eine solehe Substitution und Ver- # mischung scheinbar heterogener Reactionsformen hat nur so lange | etwas Ueberraschendes, als man an dem Dogma eines essentiellen | Unterschiedes zwischen Tastempfindungen und cutanen Gemein- ? gefühlen, zwischen Empfindungen und Gefühlen überhaupt festhält. | Ich habe auf das Bedenkliche dieser Unterscheidung bereits oben (8. 9.) ' hingewiesen, und glaube hier nochmals mit einigen Worten auf eine, semiotisch zu wenig beachtete Seite dieses Thema’s zurückkommen zu, dürfen. ö
$. 17. Jede Empfindung, auch in der Sphäre der Tastempfindungen, ist, abgesehen von der sich durch Association vollziehenden Objectivirung, welche sie erst zur Tastempfindung stempelt, auch von einem sub-
Cutane Hyperalgien und Paralgien. 31
jeetiven Gefühlselemente begleitet, oder vielmehr dieses Gefühl ist eben der im Nerven verlaufende Empfindungsprocess selbst. Wir em- pfinden niemals ohne ein Gefühl, und andererseits ist auch kein Gefühl ganz ohne eine gewisse objectivirende, sinnliche, zu Anschauung und Vorstellung tendirende Empfindung. Dies ist selbst beim heftig- sten Schmerze so sehr der Fall, dass wir gerade auf Grund dessen den Schmerz als einen bohrenden, reissenden, nagenden, stechenden u. s. w. empfinden. Es ist also bei dem Schmerze auch ein bestimmter sinnlicher Empfindungsinhalt: und obwohl wir uns die Qualität des- selben meist nur bildlich veranschaulichen, so benennen wir sie doch, und „leiden mit Erkenntniss“. — In weit höherem Grade sehen wir das Gefühlselement, als ein allen Sinnesempfindungen beigemischtes, untrennbares, bei den Geruchs- und @eschmacksempfindungen hervor- treten, die neben der Bestimmtheit des Empfindungsinhaltes, der spe- cifischen Eigenthümlichkeit des Wahrgenommenen, durchgehends von Lust- oder Unlustgefühlen begleitet sind. Eine analoge Gefühlsbei- mischung wird bei den Gehörs- und Gesichtsempfindungen ebenfalls, wenn auch bei gewöhnlichen Reizen nur in geringerem Grade, beob- achtet, und als Wohlklang, Missklang; mildes, grelles, wohlthuendes, blendendes Licht u. s. w. bezeichnet.
Schmerz ist demnach nur die graduelle Steigerung des Gefühls, welches jeden Empfindungsvorgang begleitet oder welches vielmehr die Empfindung selbst ist, entkleidet von der Bestimmtheit ihres Inhaltes und von den (durch Association der Empfindungen vermittelten) Ob- Jectivationen.
In der Regel ist bei mässigen Reizen, welche auf die Tastnerven- enden einwirken, das Gefühlselement so schwach, dass es.nicht als gesondert neben dem inhaltlichen Elemente der Empfindung auftaucht, sondern in demselben vollständig aufgeht. Der Reiz ruft anscheinend nur Tastempfindung hervor: in Wahrheit ist jedoch stets mit der- selben ein Gefühl, wenn auch beinahe unmerklich, verbunden. Dieses Gefühl ist die Form, unter welcher sich die einzelne Empfindung als solche überhaupt nur im Bewusstsein unmittelbar darstellen kann. Es ist daher auch je nach der psychischen Individualität bei verschie- denen Personen stärker oder schwächer ausgeprägt, und wir nennen mit Recht solche Personen feinfühlig, welche alle Sinneseindrücke mit diesem Elemente des Gefühls in inniger Weise amalgamiren.
Bei Hyperalgesien sind einzelne Theile des Empfindungsapparates in Folge krankhafter Veränderungen erregbarer geworden; und allen
32 Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
Sinneseindrücken, welche die Nerven dieser Theile in Erregung ver- setzen, ist nun dieses Element des Gefühls in stärkerem Grade bei- gemischt, so dass zuletzt vor dem Ueberwiegen desselben alle Be- stimmtheit des Empfindungsinhalts scheinbar völlig vertilgt wird. Hier ist demnach das Gegentheil dessen erreicht, was bei der abstracten Vorstellung stattfindet, wo gegenüber dem inhaltlichen Fmpfindungs- elemente das formale Gefühlselement scheinbar gänzlich verschwindet.
$. 18. Die allgemeinen Bedingungen für die Entstehung eutaner Hyperalgesien fallen mit denen zusammen, welche wir (in $. 4) als massgebend für die Entstehung von Hyperästhesien überhaupt hin- gestellt haben Wir können demnach auch peripherische, Leitungs- und centrale Hyperalgesien der Haut unterscheiden. Eine semiotische Differrenz dieser Formen muss, in analoger Weise wie bei den Anästhesien, durch das Verhalten der Reflexerregbarkeit m den hyperalgetischen Hautbezirken bedingt werden. Die Reflexerreg- barkeit muss bei den (im engeren Sinne) peripherischen Hyper- algesien erhöht, bei centralen Hyperalgesien intact sein; bei Leitungs-Hyperalgesien kann sowohl Erhöhung als Integrität und sogar Verminderung der Reflexerregbarkeit bestehen, je nachdem der primäre Krankheitsheerd unterhalb oder oberhalb der Abgangs- stelle der Reflexbogen, im Rückenmark oder Gehirn liegt. — Von einer detaillirten Erörterung der eutanen Hyperalgien in pathogeneti- scher, ätiologischer und therapeutischer Hinsicht stehen wir hier ab, da es sich nur um ein einzelnes Symptom handelt, auf welches wir bei Betrachtung der Neuralgien und anderweitiger Neurosen häufig zurückkommen müssen.
Als eine dritte, sich den cutanen Hyperästhesien mehr anreihende als wirklich unterordnende Gruppe von Sensibilitätsstörungen haben wir, von dem in $. 3 erörterten Gesichtspunkte ausgehend, die-cutanen Paralgien zu betrachten, wohin einige mit besonderm Namen be- legte Empfindungsanomalien (Pruritus, Formication, Ardor, Algor) gehören.
$. 19. Pruritus, Hautjucken, bezeichnet eine Empfindung, welche vorzugsweise in den Nervenenden des Papillarkörpers selbst durch Einwirkung abnormer Irritamente hervorgebracht wird. Diese Empfindung hat etwas ganz Specifisches, wodurch sie sich, obwohl einigermassen den Empfindungen von Kitzel oder brennendem und
Cutane Hyperalgien und Paralgien. 33
_ stechendem Schmerz verwandt, doch davon unterscheidet; sie charak- terisirt sich ausserdem durch den unwiderstehlichen Drang zum Kratzen der ergriffenen Hautstellen. Die causalen Momente für die dem Pruritus zu Grunde liegenden Irritationen der sensibeln Nervenenden sind, wie es scheint, bei einer grossen Reihe von acuten und chroni- schen Hautaffeetionen gegeben. Wir finden Hautjucken als Symptom bei den Eruptionen der exanthematischen Fieber, ferner bei den ver- schiedenen Formen von Eezem, Herpes, Impetigo, Urticaria, Acne, Ecthyma, Psoriasis, endlich bei manchen parasitischen Hautaffectionen (Scabies, Pediculosis, Herpes tonsurans, Pityriasis), welche alle mit mehr oder minder ausgedehnter Betheiligung des Papillarkörpers ein- hergehen. Auch das Jucken, welches die Heilung von Wunden und Geschwürflächen begleitet, fällt mit dem Auftreten der Granulationen, d. h. mit Bildung eines neuen Papillarkörpers zusammen.
Die Empfindung des Hautjuckens kann jedoch entstehen, ohne dass Exantheme vorhanden zu sein brauchen, welche mit Veränderungen im Papillarkörper einhergehen. Die Nervenenden des Papillarkörpers können auch durch anderweitige, namentlich durch gewisse, mit dem Blutstrom zugeführte chemische Reize in denselben Erregungszustand versetzt werden. Hierher gehören die Formen von Pruritus, welche bei Ieterus und Diabetes mellitus, ferner bei Intoxicationen mit gewissen narcotischen Alcaloiden (Morphium, Aconit u. s. w.) beob- achtet werden.
Endlich gehört hierher die bald als Pruritus, bald als Prurigo (Willan) bezeichnete Affection, welche sich durch anfallsweise auf- tretendes Jucken in mehr oder minder umfangreichen Hautbezirken charakterisirt, und mit nutritiven Veränderungen des Integuments, gewöhnlich in Form papulöser Eruptionen, verbunden zu sein pflegt. Die peinliche Hautempfindung, das Jucken, ist dabei das Primäre, dem in der Regel erst nach einiger Zeit örtliche nutritive Ver- änderungen (Köthung, Temperaturerhöhung, Knötchenbildung_ etc.) folgen.
Man hat sich vielfach mit der Frage beschäftigt, ob die Prurigo eine Nervenkrankheit oder eine Hautkrankheit sei: eine Frage, die wenigstens in dieser Form ebenso müssig ist, als wenn man darüber streiten wollte, ob die Pleuritis zu den Krankheiten des Respirations- apparates oder der serösen Häute gehöre. Wichtiger als diese Dis- cussion ist die Frage nach dem Ursprunge der nutritiven Störun- gen bei der Prurigo mit Rücksicht auf‘ die naheliegende Vermuthung ihrer neurotischen Entstehung, die man freilich schon längst in’s Auge
Eulenburg, Nervenkrankheiten. 3
34 Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
gefasst, aber in nicht ganz entsprechender Weise formulirt hat, in- dem man die pruriginösen Nutritionsstörungen — gleich den neural- gischen — in ein Abhängigkeitsverhältniss von der primären Sensi- bilitätsstörung versetzte. Es ist nicht wohl einzusehen, wie eine Empfindung, ein Jucken, eine Hyperästhesie, als solche, Nutritions- störungen, Röthung, Exanthembildung ete. zur Folge haben könne. Diese sind vielmehr gerade so der adäquate Ausdruck der Reizung trophischer, resp. vasomotorischer Hautnerven, wie das Jucken den adäquaten Ausdruck der Reizung sensibler Hautnerven darstellt. Die- selben Reize wirken, intermittirend oder remittirend, auf die sensi- beln wie auf die vasomotorisch-trophischen Nerven des Papillarkörpers ein; der Reiz äussert sich im Gebiete jener durch Hautjucken, im Gebiete der letzteren durch die Nutritionsstörungen, das Exanthem — welche Phänomene zusammen eben den Symptomencomplex der Pru- rigo ausmachen: Letztere ist also, neurologisch betrachtet, keine rein sensible, sondern eine gemischte, sensible und trophische Neurose und zeigt auch in dieser Hinsicht wie in der Periodieität des Auftretens u. s. w. mit den Neuralgien eine nahe . Verwandtschaft.
Der Pruritus kann an den verschiedensten Hautstellen vorkommen. Die häufigste und therapeutisch wichtigste Form ist jedoch diejenige, welche die äusseren weiblichen Genitalien befällt, und welche man als Pruritus oder Prurigo vulvae bezeichnet, die sich übrigens häufig auch auf die Vagina und selbst auf das Collum nteri, sowie auf die Haut der Oberschenkel ete. ausdehnt.
Nächstdem pflegt Prurigo am Anus, am Scrotum, an den Brust- drüsen, an den Achselhöhlen und Fusssohlen vorzugsweise aufzutreten. Man hat danach eine Prurigo analıs, scrotalis, mammalis, axillaris, plantaris u. s. w. unterschieden. |
Das Hautjucken beim Pruritus kann sehr verschiedene Grade, von der leichtesten bis zur unerträglichen Empfindung durchmachen. Die Paroxysmen kommen bald selten, bald häufig, zuweilen typisch, in der Mehrzahl der Fälle ganz unregelmässig und in Folge unbe- deutender Gelegenheitsursachen. Der Pruritus vulvae befällt zuweilen nur zur Zeit der Menstruation; oder auch nur während der Gravidi- tät, wie in einem Falle von Maslieurat-Lag&mar, wo das Leiden jedesmal zu derselben Zeit, im 3. Monate der Schwangerschaft auftrat. Bei dieser besonders quälenden Form des Pruritus kommt es sehr häufig, in Folge des ungestümen Dranges zum Kratzen der juckenden Theile, zu erheblichen localen Veränderungen: Anschwellung, Röthung und Oedem der Nymphen; in älteren Fällen Hypertrophie, Verlänge-
Cutane Hyperalgien und Paralgien. 35
rung und andere Deformitäten derselben nebst bräunlicher Pigmenti- rung, häufig auch mehr oder minder beträchtliche Varicositäten. Zu- weilen findet sich ausgedehnte Vulvitis und Vaginitis. Alle diese se- cundären Complicationen steigern wiederum den Pruritus, der sich daher in diesen Fällen oft zu einem der qualvollsten und hartnäckig- sten Leiden entwickelt.
Die eigentliche Ursache der Prurigo ist uns so unbekannt wie die des Hautjuckens überhaupt; und die Aufzählung der zahllosen entfernteren oder occasionellen Ursachen, welche man angerufen hat, wäre eine Raumverschwendung: wir verweisen in dieser Hinsicht auf die gynäcologischen und dermatologischen Specialwerke. Die Prurigo vulvae kann von vielen der früher genannten Ursachen, ferner von OÖxyuren, von reizenden Secreten bei Vaginal- und Uterincatarrhen, Blennorrhoe, Condylomen ete. abhängen; sie findet sich ferner häufig als Theilerscheinung von Hysterie, am häufigsten endlich mit mannich- faltigen Veränderungen der Integumente (vom einfachen Erythem — Intertrigo — bis zum Lichen, Eczem, Herpes, Impetigo u. s. w.) ver- bunden, die man auch wohl als Resultat einer „arthritischen Dys- krasie“, eines „Arthritismus“ (Bazin, Gu&neau de Mussy) aufge- fasst hat. |
Die Therapie der Prurigo muss vorzugsweise örtlicher Natur sein. Freilich hat man dies Prineip, wie bei den Hautkrankheiten überhaupt, so auch bei Prurigo, lange verkannt und auf innere Medi- camente einen weder theoretisch noch empirisch gerechtfertigten Werth gelegt. Das unstreitig wirksamste unter der grossen Schaar der empfohlenen inneren Mittel ist die von Romberg, Hardy und An- deren gerühmte Solutio Fowler. Dagegen können die anderweitig angepriesenen Diuretica, Purgantia, der Gebrauch der Mineralsäuren, des Strychnins und Phosphors (Burgess), der bitteren Pflanzensäfte — namentlich der an Schwefel und Jod reichen Kresse — u. Ss. w. wohl allenfalls die äussere Behandlung unterstützen, niemals aber der- selben allein mit Erfolg substituirt werden.
Die localen Heilmittel gelangen vorzugsweise in Form von Bädern und Waschungen, auch von Cataplasmen, zur Anwendung. Es ist im Allgemeinen zu beachten, dass warme oder lauwarme Bäder und Waschungen bei Prurigo besser vertragen werden als kalte; die Wir- kung der Kälte ist höchstens eine flüchtige und hat nach momentaner Erleichterung oft eine Zunahme des quälenden Hautjuckens zur Folge. Unter den Bädern leisten entschieden am meisten die Schwefel- bäder; die schwefelhaltigen Thermalquellen (Aachen, Schinznach,
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36 Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
St. Sauveur in den Pyrenäen u. s. w.) erfreuen sich daher eines wohl gerechtfertigten Rufes. Am glänzendsten wirken die Schwefelbäder bei den inveterirten, chronischen Formen von Pruritus vulvae. — In frischeren Fällen empfiehlt sich vor Allem der äussere Gebrauch des Sublimats, entweder in Bädern (nach v. Baerensprung) oder — wohl zweckmässiger — in Form von Waschungen, resp. Injeetionen in die Vagina (nach Trousseau, Pidoux, Moysant, Gueneau de Mussy und Anderen). Man kann dabei schwache, warme oder -
lauwarme Sublimatlösungen, entweder in sehr verdümmtem Alcohol
oder bloss in Wasser (0,5 Sublimat auf 500 Wasser) benutzen.
Von viel zweifelhafterem Werthe ist die Unzahl sonst empfohle- ner äusserlicher Proceduren, namentlich von narcotischen Waschungen und Fomenten (mit Agq. laurocerasi, Inf. Bellad. oder Aconit.), Ca- taplasmen und Salben, wie der von Michea gerühmten Chloroform- salbe; das Einreiben von Glycerin, von Brom-, Tannin- und Höllen- steinsalben, die Cauterisation mit Höllenstein, das Betupfen mit Aeci- dum hydroeyanicum (Danzel), die Anwendung narkotischer Mittel zu Sitzbädern (Hebra) oder zu Vaginal-Injectionen. Dagegen ist das von Hebra beschriebene Verfahren (Einhüllen des Kranken in wol- lene Decken, achttägiges Einreiben mit grüner Seife, darauf lauwarmes Baden) in Bezug auf dauernde Heilung häufig erfolgreich. Amann will in 3 Fällen durch wiederholte Application von 3—5 Blutegeln an die Vulva, nach dem Scheitern aller anderen Mittel, Heilung er- zielt haben.
$. 20. Ameisenkriechen, Formicatio, ist eine cutane Par- algie, welche nicht bloss, wie das Hautjucken, durch örtlich auf die Nervenenden des Papillarkörpers einwirkende Irritamente, sondern auch durch Einwirkung abnormer Reize auf die Nervenstämme und die sensibeln Centraltheile des Nervensystems entsteht. Immer handelt es sich auch hier nur um einen leichteren Grad der Reizung, so dass nicht Schmerz, sondern eben nur jene als Kribbeln, Prickeln u. s. w. bezeichnete Empfindung hervorgebracht und nach der Peri- pherie der erregten Hautnervenfasern projieirt wird.
Wir sehen daher Ameisenkriechen u. A. bei leichteren mecha- nischen, namentlich traumatischen Insultationen der Nervenstämme als ein rasch vorübergehendes Symptom auftreten. Allgemein bekannt ist die Sensation in den Fingerausbreitungen des N. ulnaris nach Contusionen des Ellbogens, sowie im Fusse bei längerer Compression des Ischiadieus (das sogenannte “Einge- schlafensein des Fusses beim Sitzen). Aechnliche Sensationen wer-
Cutane Hyperalgien und Paralgien. 37
den auch im Arme bei Compression des Plexus brachialis (z. B. durch Ueberhangen des Arms über einer Stuhllehne) und im Gesichte nach längerem Liegen auf einer Gesichtshälfte beobachtet.
Beispiele central bedingter Formicationen liefert die Tabes dor- sualis, wo uns dieses Symptom häufig begegnet, zumal in der Haut der Unterextremitäten und des Rückens, seltener in den oberen Ex- tremitäten, zuweilen auch im Gesichte. Während hier der Sitz der Erregung meist innerhalb des Wirbelcanals liegt, ist er bei den eben- falls häufigen Formicationen der Hysterischen und Hypochondrischen theilweise vielleicht innerhalb der Schädelhöhle zu suchen. Centralen Ursprungs sind wahrscheinlich auch die Formicationen bei Pellagra und die, welche man nach Einführung gewisser toxischer Substanzen in den Organismus beobachtet. Bekanntlich ist Ameisenkriechen u. A. ein charakteristisches Symptom der Ergotinwirkung, und hat den chronischen Vergiftungen mit Mutterkorn den Namen der Kriebel- krankheit verliehen. Seltener wird Ameisenkriechen beim G@ebrauche intensiver Dosen von Veratrin und von Morphium beobachtet.
8.21. Als Ardor und Algor werden die krankhaften subjectiven Empfindungen von Wärme und Kälte in den Hautdecken bezeichnet.
Das subjective Gefühl von Wärme und Kälte in der Haut wird bekanntlich, abgesehen von denjenigen Agentien, welche von aussen her direct Wärme zuführen oder entziehen, wesentlich durch Schwan- kungen im Blutgehalt der Theile veranlasst; und zwar haben ver- mehrte arterielle Blutzufuhr und gesteigerte Füllung der Hautcapilla- ren ein erhöhtes Wärmegefühl — verminderte arterielle Blutzufuhr und capilläre Anämie ein Gefühl von örtlichem Frost oder Kälte zur Folge. Das Frost- und Hitzestadium des Wechselfiebers, überhaupt die subjecetiven Frost- und Hitzeempfindungen bei acuten Krankheiten, liefern hiervon die überzeugendsten Beweise, da sie nicht durch die Temperatur des Blutes (die beim Fieberfrost ebenso hoch sein kann wie im Hitzestadium), sondern lediglich durch den wechselnden Blutgehalt der kleinsten Hautarterien und der Hauteapillaren bedingt werden. Dem krankhaften Hitze- und Frostgefühl liegt wahrschein- lich auch in den meisten Fällen, wo man dasselbe als rein „nervöses“ bezeichnet, eine relativ bedeutende ‚und plötzliche Schwankung im Blutgehalt der betreffenden Hautabschnitte zu Grunde. Ich erinnere nur an die Zustände, welche man als Erythema fugax bezeichnet, wobei eine rasch kommende und wieder verschwindende Röthung, verbunden mit Hitzegefühl, bald periodisch an denselben, bald ab- wechselnd an verschiedenen Hautstellen auftritt; an den Ardor und
38 Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
Algor bei Hysterischen, welche ebenfalls in der Regel mit plötzlichem Rothwerden oder Erblassen der betreffenden Hautregionen einher- gehen. Es sind demnach Ardor und Algor als cutane Paralgien zu betrachten, von denen jener durch eine positive, dieser durch eine negative Schwankung im Blutgehalte der Haut hervorgebracht wird. Dies schliesst freilich die Möglichkeit nicht aus, dass gleichzeitig eine Hyperalgie vorhanden ist: d. h. dass positive oder negative Schwankungen im Blutgehalte der Haut, welche bei Gesunden gar nicht empfunden werden, unter den obwaltenden pathologischen Be- dingungen als merkbarer Reiz wirken und die subjective Hitze- oder Frostempfindung veranlassen.
Die örtlich vermehrte oder verminderte Blutfüllung der Haut, als Ursache von Ardor und Algor, kann natürlich auf rein mechani- schen, hämostatischen Bedingungen beruhen, eine Theilerscheinung allgemeiner Circulationsstörungen darstellen, wie bei manchen- Herz- und Lungenaffeetionen und bei Chlorotischen; sie kann aber auch von functionellen Störungen im vasomotorischen Nerven- apparat abhängen. Die den Ardor bewirkende Hyperämie kann durch Verminderung des arteriellen Tonus und consecutive Er- schlaffung der Gefässe — die den Algor bewirkende Anämie durch einen tetanischen ° Zustand der kleinsten Hautarterien herbeigeführt werden. Wahrscheinlich liegen solche, örtlich be- gränzte, Functionsstörungen im vasomotorischen Nervenapparate den meisten Fällen von Ardor volaticus, dem Ardor und Algor der Hysterischen und anderer, als „reizbar“ oder „nervös“ bezeichneter Individuen zu Grunde; die Ursache des subjectiven Hitze- und Frost- gefühls ist demnach in solehen Fällen eine primäre Angioneurose. Das rapide Auftreten und Verschwinden, der rasche Wechsel von Ardor und Algor, wird durch diesen Umstand erklärlich.
Neuralgien. Allgemeine Pathologie und Therapie.
$. 22. Unter dem Gesammtnamen „Neuralgien“ wird eine Gruppe von Affectionen des Nervenapparates befasst, welche durch die Uebereinstimmung ihrer cardinalen Symptome eine nahe Ver-
- wandtschaft mit einander bekunden, deren substantielle anatomische
Grundlagen aber noch wenig erforscht sind.
Neuralgien. 39
Das pathognomonische Symptom der Neuralgien ist Schmerz; diesem verdanken sie auch ihren Namen, der etymologisch nicht gerade glücklich gebildet ist, da es selbstverständlich keinen andern als vom Nerven, vsüpov, abhängigen Schmerz giebt. Die Abgrän- zung des neuralgischen Schmerzes vom nicht-neuralgischen ist denn auch eine mehr willkürliche, conventionelle, Der Schmerz gilt im Allgemeinen als neuralgisch, wenn er 1) spontan ist, d. h. durch krankhafte Vorgänge innerhalb des Organismus selbst provocirt wird; ‘wenn er 2) mit ungewöhnlicher Intensität und Extensität auftritt, sehr vehement ist und sich über eine grosse Summe sensibler Primi- tivröhren oder längs des Verlaufes grösserer Nervenäste verbreitet; wenn er endlich 3) nicht continuirlich und gleichmässig auftritt, son- dern ein periodisches An- und Abschwellen erkennen lässt, so dass Exacerbationen (neuralgische Anfälle, Paroxysmen) mit ab- solut oder relativ schmerzfreien Intervallen (Intermissionen, Re- missionen) abwechseln. Von diesen empirisch gegebenen Bestim- mungen ist mindestens die erste keinem Bedenken unterworfen: denn wir reden nur dann von Neuralgie, wenn eine Quelle abnormer Er- regung der Gefühlsnerven im Organismus vorhanden ist — nicht aber, wenn die Erregung durch äussere Insulte (z. B. durch Teta- nisation eines Nervenstammes) gesetzt wird. Ein scheinbarer Wider- spruch ergiebt sich aus der Aufstellung traumatischer Neuralgien; allein bei diesen haben wir nicht den unmittelbaren traumatischen Schmerz im Auge, sondern spätere Erscheinungen, welche zum Trauma nur in einem secundären Folgeverhältnisse stehen. — In der Spon- taneität des neuralgischen Schmerzes, in seinem Bedingtsein durch innere organische Reize liegt auch das charakteristische Unterschei- dungsmerkmal der Neuralgie und Hyperästhesie, oder genauer des neuralgischen Schmerzes vom hyperalgetischen. Die Hyperästhesie fanden wir charakterisirt durch ein Missverhältniss zwischen Reiz- stärke und Stärke der percipirten Empfindung zu Gunsten der letz- teren — ein Zustand, welcher zwar das Vorhandensein abnormer iunerer Reizquellen nicht ausschloss, dasselbe aber ebensowenig nothwendig voraussetzte. Vielmehr konnte ein entscheidendes Cri- terium dieser Zustände gerade nur durch die (explorative) Anwen- dung äusserer Reize gewonnen werden: indem bei derselben jenes latente Missverhältniss hervortrat. — Umgekehrt bei den Neuralgien: hier müssen nothwendig abnorme innere Reizquellen vor- handen sein und der Schmerz erscheint durch dieselben bedingt oder „spontan“, womit eben nur die Abwesenheit äusserer Erregungs-
40 j Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
ursachen bezeichnet wird; jedoch ist eine gleichzeitige Incongruenz zwischen Reizstärke und Stärke der percipirten Empfindung dabei keineswegs ausgeschlossen, vielmehr kann auch eine dem Grade nach excessive Reaction auf den an sich pathologischen Reiz folgen. Hieraus geht denn hervor, dass Hyperalgien und Neuralgien sich gegenseitig | nicht ausschliessen, sondern vielmehr häufig berühren und durch- | kreuzen, so dass eine strenge Abgränzung ihrer Gebiete weder aus- || ‘ führbar, noch in practischer Beziehung opportun ist. Neuralgie und Hyperalgie fallen vielmehr in zahlreichen Fällen mit einander zu- sammen; und das Auftreten excessiver Reaction bei explorativer Anwendung äusserer Reize ist in neuralgischen Anfällen eine so || häufige Erscheinung, dass Manche darin — wiewo'l mit Uebertrei- bung — sogar ein nothwendiges pathognomonisches Symptom der Neuralgien erblickt haben. Wir werden bei Erörterung der neural- u gischen Druckschmerzpunkte alsbald auf diesen Umstand zurück- ı kommen. |
il) $. 23. Ueber die zweite empirische Bestimmung des neuralgi- schen Schmerzes, welche aus seiner In- und Extensität herrührt, ist I Folgendes zu bemerken: Als anatomisches Substrat der Neuralgien N muss natürlich eine materielle (nicht etwa „dynamische“) Verände- rung, ein Reizungsheerd innerhalb des sensibeln Nervenapparates gegeben sein; dies ist ein Postulat, welches wir überall aufstellen müssen, wo uns überhaupt „spontane“, d. h. durch innere Reizquel- len hervorgerufene Schmerzempfindung begegnet. Die neuralgischen Erscheinungen, namentlich die ungewöhnliche In- und Extensität des Schmerzes und seine Ausstrahlung längs des Verlaufes grösserer Nervenäste, nöthigen uns zu der Annahme, dass der primäre Rei- zungsheerd dabei nicht in den parenchymatösen Organen liegt, an welchen sich die Endigungen der Gefühlsnerven verbreiten, nicht an den peripherischen Empfindungsoberflächen, wohin der Schmerz durch einen psychischen Act projieirt wird: sondern in Organen, welche vor- zugsweise oder ausschliesslich aus nervöser Masse bestehen, welche also Theile des Empfindungsapparates im engeren Sinne darstellen: in den sensibeln Nervenzweigen, Stämmen und Wurzeln, und den sensibeln Provinzen des Rückenmarks und Gehirns. Die ungewöhn- liche In- und Extensität der neuralgischen Schmerzen hat nämlich ihren Grund in der bedeutenden Summe sensibler Primitivfasern, welche zu Bündeln und Stämmen vereinigt oder in sensibeln Central- theilen zusammengelagert einer gleichzeitigen Erregung ausgesetzt werden.
FE
Neuralgien. 41
Bei Krankheitsheerden in parenchymatösen Organen, wo die nicht-nervösen Gewebstheile an Masse erheblich gegen die nervösen Elemente überwiegen und der Reiz nur einzelne zerstreute, in nach- giebiges Parenchym eingebettete Primitivröhren trifft, hängt die In- tensität und Ausbreitung der Schmerzen ceteris paribus rein von dem Umfange des Krankheitsheerdes ab; es bedarf eines sehr aus- gedehnten Krankheitsheerdes, um durch Erregung zahlreicher, diffus selagerter Primitivröhren eine nach In- und Extensität. beträchtliche Gesammtreaction zu provociren. Ganz anders verhält es sich, wenn die centralen Ursprünge der sensibeln Nerven, die hinteren Wurzeln, oder die sensibeln Faserbündel und Stämme einer unmittelbaren Rei- zung unterliegen. Hier können die heftigsten Schmerzen mit ausge- dehnter excentrischer Projection auftreten, auch wenn der Krankheits- heerd so klein ist, dass er am Lebenden selbst bei oberflächlicher Lage der Forschung ganz und gar entgeht, ja sogar an der Leiche für unsere bisherigen Untersuchungsmethoden kaum nachweisbar ist, oder seiner Geringfügigkeit halber bald übersehen, bald in seiner pa- thogenetischen Bedeutung unterschätzt wird. |
Die Festhaltung dieses Umstandes erscheint um so wichtiger, als ein wesentlicher Theil der ärztlichen Aufgabe bei Neuralgien gerade - darin besteht, den Krankheitsheerd zu entdecken, von welchem der neuralgische Schmerz selbst nur ein Symptom ist. Indem wir sagen, ein Kranker leide an einer Neuralgie, constatiren wir damit nur, dass ein Krankheitsheerd vorhanden sein müsse, welcher für diesen oder jenen Theil der sensibeln Nervenmasse einen Reizungsheerd bildet. Diese Krankheitsheerde, ihren Sitz, ihre Natur, und die Art ihrer Einwirkung auf die davon getroffene sensible Nervenmasse zu bestim- men — ist bei den Neuralgien unsere diagnostische Hauptaufgabe, aus welcher oft die Prognose und die Formulirung der therapeutischen Causal-Indieationen ungezwungen hervorwächst.
$. 24. Das dritte Criterium, die Periodicität, das anfallsweise Auftreten der Schmerzen, gilt zwar bis zu einem gewissen Grade für alle Neuralgien, jedoch nicht für alle mit gleicher Präcision und Be- stimmtheit. Die Anfälle können bald regelmässig in gleichen Zwischen- räumen (typisch), bald mehr oder minder atypisch auftreten; die Intervalle können nur Stunden, Tage, oder (wie in manchen viscera- len Neuralgien) Jahre lang dauern; sie können absolut schmerzfrei sein, oder nur relativ, wobei der Schmerz eigentlich niemals ganz er- lischt, obwohl er sich noch paroxysmenweise zu erhöhter Heftigkeit steigert. Dieser mehr remittirende als intermittirende Charakter ist
42 Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
namentlich sehr veralteten Neuralgien eigenthümlich, und in solchen Fällen bestehen dann häufig auch während der Remissionen neben dem spontanen Schmerze noch anderweitige Krankheitserscheinungen (wie subeutane und cutane Hyperalgesien), die sonst nur zur Zeit der, Paroxysmen vorhanden zu sein pflegen. |
Worauf die Periodicität des Schmerzes bei den Neuralgien beruht, ist durchaus unermittelt. Wir können nur daran er- innern, dass einerseits in einem periodischen An- und Abschwellen überhaupt ein Grundzug jeder sowohl physiologischen als pathologi- schen Nerventhätigkeit zu liegen scheint, der offenbar durch die Er- schöpfbarkeit des Nervensystems gegen alle stetig einwirkenden Reize bedingt ist: sei es, dass dabei zunächst die Anspruchsfähigkeit der gereizten Nervenstelle, oder die Leitungsfähigkeit der Nervenfasern, oder endlich die centrale Perceptionsfähigkeit für kürzere oder längere Zeit abgestumpft wird. — Andererseits ist bei den Neuralgien die Stetigkeit des primären Nervenreizes selbst noch in Frage: dieser könnte vielmehr auch ein discontinuirlicher, flüchtiger und sich in In- tervallen reproducirender sein, oder sich wenigstens nur zeitweise und vorübergehend zu der den Anfall erzeugenden Intensität steigern. Freilich haben wir hierfür keine Beweise, sondern nur Vermuthungen, die wesentlich aus der Analogie mit anderen, flüchtig auftretenden und verschwindenden und periodisch oder typisch recurrirenden Krank- heitsprocessen geschöpft sind.
$. 25. Druckschmerzpunkte, points douloureux. — Valleix hat zuerst darauf aufmerksam gemacht, dass bei oberflächlichen (eutanen) Neuralgien einzelne, bestimmte Körperstellen während der Anfälle eine excessive Schmerzhaftigkeit auf Druck darbieten, und da- durch ein charakteristisches Symptom dieser Neuralgien ausmachen. Die Lage dieser Stellen ist, nach Valleix, stets im Verlaufe eines Nervenstammes oder seiner Hauptäste, und zwar in der Regel da, wo grössere Nervenstämme aus der Tiefe in eine mehr oberflächliche Schicht übergehen, namentlich wo sie aus Knochencanälen, aus Lücken fibröser Fascien u. s. w. hervortauchen. Diese empfindlichen Stellen (Schmerzpunkte, points douloureux) haben meist einen sehr geringen Umfang und heben sich von ihrer Umgebung ziemlich scharf ab, so dass sie in der That oft den Namen von Schmerz- punkten (points douloureux) rechtfertigen: während sie in an- deren Fällen jedoch keineswegs so umgränzt sind und weit eher die Bezeichnung einer Schmerzlinie verdienen würden. Ihre Empfindlich- keit entspricht im Allgemeinen der Intensität des spontanen Schmerzes,
Neuralgien. 43
und kann daher während der Intervalle entweder ganz fehlen, oder auf ein relativ geringes Maass reducirt bleiben.
Die übereinstimmenden Resultate der ausgezeichnetsten Beobachter, welche der Valleix’schen Lehre ihre Aufmerksamkeit zuwandten, machen es unzweifelhaft, dass keineswegs bei allen Neuralgien ober- flächlicher und der Palpation zugänglicher Nervenstämme Druckschmerz- stellen im Verlaufe der afficirten Nervenbahnen nachweisbar sind. Das Verhältniss stellt sich auch nicht entfernt so günstig, wie Valleix selbst angiebt, der nur in einem einzigen unter 112 Fällen von Neur- algien diese Druckpunkte vermisste! Den Vorwurf der Ungenauigkeit, welchen Valleix den zu anderen Resultaten gelangten Beobachtern macht, wird man gegen Männer, wie Schuh, Hasse, Romberg, schwerlich erheben, welche übereinstimmend das Fehlen der Druck- punkte bei Neuralgien als eine keineswegs seltene Erscheinung be- kunden.
Bei dem ungewöhnlich reichhaltigen Material an Neuralgien, wel- ches sich mir in der Greifswalder chirurgischen Klinik und Poliklinik, sowie in der hiesigen Universitäts-Poliklinik darbot, habe ich stets der Ermittelung vorhandener Druckpunkte in jedem einzelnen Falle besondere Sorgfalt gewidmet. Ich glaube kurz sagen zu können, dass Druckpunkte im Valleix’schen Sinne (schmerzhafte Punkte im Verlaufe der afficirten Nervenbahnen) bei etwas mehr als der Hälfte aller oberflächlichen Neuralgien nachweisbar sind, in den übri- gen Fällen dagegen auch bei rigorösester Prüfung entschieden vermisst werden. Es gilt dies jedoch, wie ich ausdrücklich hervorhebe, nur eben für die Valleix’schen Schmerzpunkte; es können aber ausser diesen noch andere Druckschmerzstellen bei Neuralgien vorkommen, die nicht im Verlaufe der afficirten Nervenstämme liegen, die vielmehr einzelnen Stellen der Haut oder tieferer Gewebe (Muskeln, Knochen, Gelenkflächen u. s. w.) entsprechen, und deren Verhältniss zu den neuralgischen Symptomen noch wenig geklärt ist.
$. 26. Den von V alleix übersehenen Umstand, dass die Schmerz- punkte häufig nicht sowohl bei starkem als bei leichtem Drucke sich schmerzhaft erweisen, hat neuerdings Romberg*) hervorgehoben. Er erinnert daran, dass bei Neuralgien öfters schon die oberflächlichste, leichteste Berührung sowohl während der Intervalle Schmerzen erregen
*) Zur Kritik der Valleix’schen Schmerzpunkte in Neuralgien, Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Band I. Heft 1.
44 Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
kann, als auch besonders während der Paroxysmen dieselhen steigert. In einem Falle von Schuh reichte bei Prosopalgie schon die durch An- hauchen hervorgerufene Bewegung der langen Barthaare hin. Lentin erwähnt einen Fall von Neuralgie am Ballen des rechten Fusses, wo ein Papierstreifen, der auf den mit dem Strumpf bedeckten Ballen fiel, den Schmerz auf mehrere Stunden erweckte. Dies sind jedoch offenbar Fälle, in welchen neben der Neuralgie oder als Theilerscheinung der- selben noch diffuse cutane Hyperalgesien bestanden. Dagegen wird durch einen starken und anhaltenden Druck auf den affieirten Nerven- stamm während des Anfalles häufig der Schmerz coupirt oder verrin- gert: eine Erscheinung, die wenigstens bei peripherischen Neuralgien nichts Ueberraschendes hat. insofern durch eine hinreichend starke Compression die Leitung in dem affieirten Nerven zwischen Krank- heitsheerd und Gehirn zeitweilig gestört oder unterbrochen werden kann. Diese Thatsache ist so evident, dass sie selbst den Laien bekannt ist, und Neuralgische sich häufig durch Druck auf den affı- cirten Nervenstamm Linderung ihrer Schmerzen verschaffen. Wahr- scheinlich kommt nicht allein die Intensität, soudern auch die Dauer des Druckes wesentlich in Betracht. Hierfür sprechen u. A. die in- teressanten Versuche von Bastien und Vulpian, wonach Einwir- kung des Fingerdrucks auf einen gesunden Nervenstamm zuerst Schmerz und paralgische Erscheinungen, alsdann verminderte Em- pfindung im Bezirke des Nerven hervorruft. Valleix selbst macht auf eine Beobachtung von Bassereau bei Intereostal-Neuralgie auf- merksam: dass, nachdem man an einem beschränkten Punkte einen sehr heftigen Druckschmerz hervorgerufen hat, kurze Zeit darauf die Compression dieser Stelle nicht mehr dasselbe Resultat liefert, allein nach einiger Ruhe wieder Schmerz wie zuvor dadurch produeirt wird.
Nicht immer sind die Valleix’schen points douloureux auch der Sitz spontaner Schmerzen im Anfall; vielmehr sind sie häufig von spontanen Schmerzen absolut frei. Dieser scheinbare Wider- spruch erklärt sich einfach dadurch, dass die Haut, welche den affı- cirten Nervenstamm bedeckt, ihre Sensibilität häufig von anderen, bei der Neuralgie unbetheiligten Nervenästen bezieht. So wird z. B. die Haut über dem Condylus internus humeri nicht vom Ulnaris, sondern vom Nervus eutaneus internus minor; die Haut über der Austritts- stelle des Ischiadicus nicht "von Letzterem selbst, sondern von dem höher abgehenden Nervus cutaneus femoris posterior versorgt. Es handelt sich bei den Valleix’schen Druckschmerzpunkten stets
Neuralgien. 45
um circumseripte subcutane Hyperalgesien gegenüber den früher besprochenen eutanen; man muss den Druck auf die unter der Haut liegenden Gewebe dirigiren, um sie zu entdecken; die da- rüber liegende, in eine Falte erhobene Haut ist für sich allein in keiner Weise empfindlich. Das Pathologische dieser Druckschmerz- stellen geht aus einem Vergleiche mit symmetrischen Stellen der an- deren Körperhälfte oder gesunder Individuen hervor, wo bei gleichem Druck dieselben Stellen nicht schmerzen. Die Empfindlichkeit auf Palpation oder Druck bildet für diese Stellen in der Regel das einzige krankhafte Symptom; namentlich findet man fast niemals dort irgend welche deutlich ausgesprochenen Entzündungssymptome (Anschwellung, Röthe, oder Temperaturerhöhung), sei es, dass diese Symptome über- haupt nicht vorhanden oder dass sie, wie man wohl angenommen hat, zu geringfügig sind, um sich durch die bedeckende Haut hindurch zu markiren. Da auch spontane Schmerzen an den Druckpunkten oft fehlen oder wenigstens in keiner Weise das Mass der in der Umge- bung empfundenen übersteigen, so erklärt es sich leicht, dass die Kranken von der Existenz jener Druckpunkte keine subjective Vor- stellung haben, und ihr Vorhandensein immer erst durch eine genaue ärztliche Exploration sichergestellt wird.
$. 27. Wir haben uns nun mit der Pathogenese dieser Druck- punkte zu beschäftigen, womit zugleich die Frage nach ihrer semio- tischen und nosologischen Bedeutung innig zusammenhängt. Man hat sich vielfach mit der Erklärung begnüst, dass die Druckschmerzpunkte bei Neuralgien durch eine Art von Irradiation oder excentrischer Em- pfindung zu Stande kämen — eine ebenso unklare, als physiologisch unberechtigte Vorstellung. Wir können uns allerdings denken, dass beim Vorhandensein von Reizungsheerden an einzelnen Nervenbahnen auch die unterhalb des Reizungsheerdes (peripherisch) gelegenen Bahn- strecken auf Druck schmerzen. Diese Möglichkeit ist aber nicht er- klärbar durch eine Irradiation oder excentrische Projection der Em- pfindungen, sondern nur durch die Annahme von Leitungshyper- ästhesien (vgl. $. 4). Mag man jedoch die Druckschmerzpunkte auf Irradiation und excentrische Empfindung, oder, wie es meiner Ansicht nach zutreffender ist, auf Leitungshyperästhesien zurückführen — immer werden dieselben hier als Symptome aufgefasst, welche nicht localen (am Orte der Druckstelle belegenen), sondern entfernten Rei- zungsheerden ihren Ursprung verdanken. Dieser Auffassung steht demgemäss diejenige entgegen, welche in den Druckpunkten überall oder mit wenigen Ausnahmen örtliche Reizungsheerde resp.
46 Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
Entzündungsheerde erblickt, die in den auf Druck empfindlichen Stellen des subeutanen Gewebes — sei es im Nerven selbst oder in Nachbartheilen desselben — ihren Ausgangspunkt haben. Letztere Auffassung, der schon frühere Autoren eine beschränkte Gültigkeit einräumten, hat neuerdings Lender*) mit so weitgehenden Folgerun- gen verfochten, dass die ganze Lehre von den Neuralgien dadurch in der empfindlichsten Weise betroffen wird.
Nach Lender kann und muss aus dem Vorhandensein von Druckschmerz überall geschlossen werden, dass ein Reizungsheerd in der Richtung des Druckes liege, durch welchen er entdeckt worden ist. Umgekehrt können nur diejenigen entzündeten Körpertheile Druckschmerz zeigen, welche innerhalb ihres Bereiches oder in ihrer Nachbarschaft sensible Nerven beherbergen. Der weiteren Argumentation Lender's liegt die Voraussetzung zu Grunde, dass ein Krankheitsheerd, welcher durch seine sensibeln Nerven spontane Schmerzen (sei es örtliche, oder irradiirte und excentrische) hervorruft, auch auf Druck schmerzen müsse, wenn er der Palpation zugänglich ist. Hieraus wird gefolgert, dass, wenn irgend ein Körpertheil, z. B. der Arm, von einer Krankheitsursache direct getroffen wird, so dass spontane Schmerzen darin auftreten, auch nothwendig Stellen innerhalb desselben vorhanden sein müssen, welche auf Druck schmerzen. Ob dieselben in jedem einzelnen Falle nachgewiesen werden können, richtet sich lediglich darnach, ob der Fingerdruck bis zu allen Theilen des spontan schmerzenden Gliedes sich fortzupflanzen im Stande ist. Ebenso verschwin- det nach L. der spontane Schmerz mit Sicherheit nur dann, wenn diese auf Druck schmerzhaften Stellen sich verlieren, oder durch Kunsthülfe beseitigt werden. Es ergiebt sich demnach, dass diese Druckschmerzstellen das Dauernde und Wesentliche sind, von welchem die flüchtigen neuralgischen Erscheinungen ausgehen; dass sie nicht bloss begleitende, complicirende Phänomene, sondern das zeitliche und causale Prius derselben darstellen. Die points douloureux sind nicht Symptome der Neuralgie, sondern die Neuralgie ist vielmehr ein Symptom der vorhandenen points douloureux. Dies gilt wahrscheinlich für alle, sowohl oberflächlichen als tieferen Neuralgien — nur dass für die letzteren auf den Nachweis der points douloureux verzichtet werden muss.
Es ist nur eine striete Consequenz dieser Anschauung, wenn nach Lender in denjenigen Fällen, wo points douloureux nachweisbar sind, die Neuralgie nicht mehr das Recht hat, dem gesammten Krankheitszustande den Namen zu geben — sondern diese Berechtigung auf den Krankheitsheerd selbst übergeht, der das Substantielle, Dauernde gegenüber den accidentellen, zeitweiligen Schmerzanfällen ist. Wenn also z. B. bei Ischias ein Schmerzpunkt sich hinter dem grossen Rollhügel befindet, so müsste man den Krankheitszustand als circumscripte (rheumatische, septische, traumatische u. s. w.) Entzündung des Nervus ischiadicus oberhalb des Trochanter major bezeichnen. Den nahe liegenden Einwand, dass die points douloureux sehr häufig nur während der neuralgischen Anfälle, nicht aber ausserhalb derselben nach- weisbar sind und daher zu flüchtig, zu wenig stabil erscheinen, um als selbstständige locale Entzündungsheerde aufgefasst werden zu dürfen — diesen Einwand sucht Lender dadurch zu entkräften, dass er auf das Vorkommen flüchtiger recidivirender
*) Die points douloureux Valleix’s und ihre Ursachen, Berlin 1869.
Neuralgien. 47
Entzündungen in den verschiedensten Organen des Körpers hinweist. Relativ am häufigsten kommen derartige Zustände an den Muskeln, Gelenkkapseln, dem Periost und den Nervenstämmen selbt vor: eine Myitis, Arthritis, Neuritis fugax, die zur Entstehung subeutaner Druckschmerzpunkte Veranlassung geben. Einen Hauptantheil an der Genese solcher, intervallenweise recurrirender Entzündungen glaubt Lender theils traumatischen, theils septischen (namentlich atmosphärischen) Einflüssen vin- dieiren zu müssen.
$. 27. Obwohl die hier angedeuteteten Ausführungen Lender’s manches Bestechende haben und im Einzelnen vielleicht eine frucht- bare Umgestaltung und Entwickelung der Valleix’schen Lehre von den Schmerzpunkten enthalten, so ruhen ihre scharf zugespitzten Consequenzen doch unverkennbar auf schwachen hypothetischen Grund- lagen. Dass überall, wo bei Neuralgien ein point douloureux unter der Haut gefunden wird, ihm ein örtlicher Entzündungsheerd am Nerven oder in dessen Umgebung entspreche, ist an sich schon eine gewagte, weder durch dıe Beobachtung am Lebenden noch durch Autopsien ausreichend gerechtfertigte Behauptung. Indessen spricht immerhin Einzelnes indirect zu Gunsten dieser Auffassung. Allein Lender geht entschieden viel zu weit, wenn er bei allen Neuralgien (sowohl oberflächlichen als tiefen) das Vorhandensein von Schmerz- punkten — obwohl oft dem Nachweise durch Palpation entzogenen — an- nimmt; wenn er ferner diese Schmerzpunkte, resp. die ihnen entsprechen- den localen subeutanen Krankheitsheerde überall als das Wesentliche und Primitive, die neuralgischen Erscheinungen nur als aceidentelle Symp- tome derselben betrachtet.
Es ist kaum zweifelhaft, dass jedenfalls bei Weitem nicht alle Schmerzpunkte, selbst bei oberflächlichen Neuralgien, eine solche Auf- fassung zulassen, wie denn die Schmerzpunkte überhaupt bei ver- schiedenen Neuralgien zum Theil ganz verschiedene Bedeutung haben, und weder in pathogenetischer noch in semiotischer Hinsicht schleeh- terdings untereinander gleichgestellt werden dürfen. Während z. B. viele Schmerzpunkte bei Ischias und bei Neuralgia brachialis in der That örtlichen Reizungsheerden ihren Ursprung verdanken mögen, ist dies bei anderen Neuralgien keineswegs in demselben Masse der Fall; bei Weitem die meisten Schmerzpunkte bei Prosopalgien, Oceipital- Neuralgien ete. beruhen vielmehr wahrscheinlich auf Leitungs-Hyper- ästhesien — eine Möglichkeit, welche von Lender und anderen Autoren gar nicht einmal in’s Auge gefasst wird. Die points dou- loureux setzen demnach nicht nothwendig einen an der Druck- stelle selbst vorhandenen Reizungs- oder Entzündungsheerd vor- aus, sondern nur, dass ein solcher entweder an der Druckstelle
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oder centralwärts von derselben im Verlaufe des affieir- ten Nerven vorhanden sein muss. Letzteres Verhalten ist nament- lieh viel wahrscheinlicher in der grossen Mehrzahl der Fälle, wo sich multiple Druckpunkte finden und wo mit den snbeutanen auch cutane Hyperalgesien in grösserer oder geringerer Ausdehnung einhergehen. ı $. 28. Die neuralgischen Anfälle werden häufig durch Sensationen eingeleitet, die sich als Producte einer leichteren Erre- gung sensibler Nerven, als nur graduell von dem Schmerz verschie- j dene Reactionsformen kundgeben: Sensationen, welche die Kranken als Ziehen und Spannen, als Druck, Kribbeln, Laufen in den hernach schmerzenden Theilen bezeichnen. Man kann diese Prodromalempfin- dungen auf ein allmäliges, stufenweises Anschwellen der Erregung, von dem ursprünglichen interparoxysmellen Niveau (das aber auch Ä schon bedeutend über dem Indifferenzpunkte der Empfindung liegen kann) bis zur Acme des neuralgischen Insultes, beziehen. In anderen Fällen fehlen diese Vorboten; aber auch wo sie vorhanden sind, werden die höheren Stufen der Empfindungsscale mit unvermittelter -Rapidität gleichsam überflogen. Die Empfindungseurve steigt nicht allmälıg zu ihrem Maximum an, sondern erreicht dasselbe mittelst einer plötzlichen und steilen Erhebung, um dann längere Zeit mit f geringen Schwankungen darauf zu verweilen. Mit einem Male ist der Schmerz da und durchschiesst radienförmig, von einem oder mehreren Centren ausgehend, die befallenen Theile nach verschiedenen Richtun- gen hin, ebenso plötzlich an diesem oder jenem entfernteren Punkte auftauchend und in den scheinbar durchlaufenen Bahnen wieder zu seinen Ausgangspunkten zurückkehrend. Dieses plötzliche unregel- mässige, der ziekzackförmigen Bahn des Blitzes verglichene Hin- und Herfahren des Schmerzes ist so charakteristisch, dass es selbst von minder intelligenten Kranken oft richtig aufgefasst und in ihren Schil- derungen ausdrücklich betont wird. Auf die sonstigen, sehr mannig- faltigen Ausmalungen des Schmerzes, auf die ihm gegebenen Prädicate des Stechens, Reissens, Durchbohrens u. s. w. ist dagegen wenig Ge- wicht zu legen, da diese Ausdrücke nur etwas seinem Wesen nach Unbeschreibliches mittelst willkürlicher, dem individuellen Bildungs- zustande des Kranken entsprechender Vergleiche zu veranschaulichen suchen. Hat der Schmerz einige Minuten oder länger in gleicher Hef- | tigkeit getobt, so treten oft Remissionen, seltener vollständige Inter- missionen ein, die nur eine Unterbrechung, nicht das Ende des Anfalls bedeuten. Nach kurzer, oft nur secundenlanger Dauer dieser Pausen explodirt der Schmerz von Neuem, und man kann sich häufig über-
| 48 Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
Neuralgien. 49
zeugen, dass das Gesammtbild eines neuralgischen Anfalls aus einer Reihe von Theilanfällen -— wie eine Bergkette aus einer Reihe aufeinander folgender Gipfel und Einschnitte — zusammengesetzt ist. So erscheint nicht bloss im Gesammtverlaufe der Neuralgien, sondern auch im Bilde des einzelnen Anfalls jenes wellenförmige Ebben und Fluthen der Erregung, jene Periodicität, die wir als charak- teristisch für so viele pathologischen Reizzustände (und nicht min- der für so viele physiologischen Thätigkeitsäusserungen des Nerven- systems) ansprechen müssen. Bei manchen, namentlich den visceralen Neuralgien erscheint oft eine Reihe von Anfällen, durch relativ kurze Intermissionen oder Remissionen wiederum zu einer Gruppe, einem Cyelus vereinigt, und es setzt sich das Gesammtbild der Krankheit aus solchen Öyclen zusammen, wovon die einzelnen zuweilen durch langjährige Zwischenräume von einander getrennt sind.
$, 29. Sehr bemerkenswerth sind gewisse, allerdings seltenere Erscheinungen, die sich auf die Verbreitung der Schmerzen im neuralgischen Anfalle beziehen: namentlich das Ausstrahlen der Schmerzen über die ursprünglich ergriffenen Nervenbahnen hinaus auf andere benachbarte oder zum Theil selbst entlegene Ner- vengebiete. Es kommt vor, dass ein anfangs auf einzelne Trigeminus- äste beschränkter Schmerz allmälig auf andere Aeste des Quintus, auf das Gebiet der Cervicalnerven, der Oceipitalnerven, des Plexus brachialis übergreift, oder dass eine ursprünglich einseitige Trigeminus- Neuralgie sich auch auf symmetrische oder unsymmetrische Stellen der anderen Gesichtshälfte verbreitet. In ähnlicher Weise können Neuralgien der Intereostalnerven secundär auf das Gebiet des Arm- plexus übergreifen und umgekehrt; es können Abdominal-Neuralgien sich mit Schmerzen im Oberschenkel, Ischias mit Schmerz im Gebiete anderer Hautnerven der unteren Extremitäten verbinden. Endlich können auch Neuralgien innerer Theile (viscerale Neuralgien) sich vielfach mit Schmerz in den äusseren Hautdecken, sei es in benach- barten oder selbst in entfernteren Körperregionen, associiren. Alles dies sind Erscheinungen, die auf einer Irradiation der ursprüng- lichen Empfindung beruhen: Vorgänge, die bei dem isolirten Lei- tungsvermögen der peripherischen Bahnen nur in Centraltheilen stattfinden können, wo die Fortsätze sensibler Fasern, die weit ausgebreitete oder getrennte Zonen der peripherischen Empfindungs- oberfläche repräsentiren, in nächster Nähe beisammenliegen, und durch Anastomosen ihrer Insertionszellen unmittelbar mit einander
verknüpft sind. Die hinteren Wurzelfasern et bekanntlich grossen- Eulenburg, Nervenkrankheiten. 4
50 Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
theils in den Hinterhörnern der grauen Substanz in den kleinen, körner- artigen Ganglienzellen, die durch Ausläufer sowohl mit den Nerven- körpern der Vorderhörner (zum Zwecke reflectorischer Verbindungen) wie auch unter einander mit Zellen derselben und der gegenüber- liegenden Rückenmarkshälfte anastomosiren. Dasselbe gilt auch für die Zellen, welche den sensibeln Trigeminuskernen in der substantia gelatinosa des verlängerten Marks angehören. Diese Anastomosen machen es erklärlich, dass intensive Erregungen, wie sie während der neuralgischenAnfälle stattfinden, nicht auf die ursprünglich getroffenen Fasern beschränkt bleiben, sondern innerhalb der Cerebrospinalaxe zu Miterregungen anderer sensibler Fasern Veranlassung geben. Die Irradiation geschieht hierbei häufig in Zonen, welche dem peri- pherischen Verbreitungsbezirke grösserer Nervenäste und Stämme ent- sprechen: wahrscheinlich weil die Auordnung der peripherischen Empfin- dungsoberflächen durch eine analoge, nur compendiösere Anordnung in- - nerhalb der grauen Substanz repräsentirt wird, wofür auch das Fortkriechen der.spinalen Anästhesien auffällige Beispiele darbietet. — Wie die Irradia- tion, so sind auch das gleichzeitige Auftreten multipler Neural- gien, das Alterniren und Wandern derselben, aus diesen centralen Anordnungen und Verknüpfungen der Gefühlsnerven erklärlich. Es kommt vor, dass eine Trigeminus-Neuralgie, welche lange Zeit in der einen Gesichtshälfte geherrscht hat, plötzlich vorübergehend oder dauernd in der gegenüberliegenden Seite auftritt; oder dass eine Ischias verschwindet und durch eine Neuralgia brachialis gleichsam abgelöst wird. Ein derartiges Alterniren und Wandern der Neuralgien, oder ein gleichzeitiges multiples Auftreten derselben in weit auseinander- gelegenen Nervenbahnen wird namentlich bei begünstigenden con- stitutionellen Einflüssen, bei congenitaler, oft hereditärer Prädisposition von Seiten der centralen Nervenapparate und bei toxischen Einflüssen beobachtet. |
Ein interessantes Beispiel multipler und zugleich alternirender Neuralgien liefern zwei von Schotter*) mitgetheilte Fälle von chronischer Nicotinvergiftung. Es be- standen (neben anderweitigen Innervationsstörungen, motorischer Schwäche, Hyper-
. ästhesie des Olfactorius und Acusticus u. s. w.) Neuralgien im Gebiete des N. pu-
dendus externus, der linksseitigen Intercostalnerven, des rechten Plexus brachialis und des Plexus coeliacus. An jedem Morgen gegen 4 Uhr erschien zuerst die Neuralgie des N. pudendus, und dauerte bis gegen Mittag; im Laufe des Vormittags gesellte sich dazu regelmässig eine von den drei anderen Neuralgien, niemals aber waren alle Neuralgien gleichzeitig vorhanden. Am Nachmittage waren die Kranken
*) Virchow’s Archiv XLIV. H, 2. und 3. 1868. p. 172.
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schmerzfrei. Beim Aussetzen des Rauchens cessirten die Schmerzanfälle, und kehrten wieder, sobald die Patienten von Neuem zu rauchen begannen.
8.30. Allgemeine Pathogenese und Aetiologie der Neur- algien. Bei dem übereinstimmenden Verhalten der Neuralgien in ihren cardinalen Symptomen, welches ihre Aufstellung als eine besondere Krank- heitsgruppe überhaupt nur ermöglicht, liegt die Vermuthung nahe, dass wesentlich identische, nur nach Sitz, Intensität und Extensität diffe- rirende Veränderungen im Molecular-Mechanismus der sensibeln Ner- venmasse den neuralgischen Schmerz unmittelbar bedingen, und dass alle entfernteren Ursachen und Veranlassungen in letzter Instanz auf diesen, für alle Neuralgien gemeinsamen Factor hinauslaufen. Worin diese Veränderung im Molecular- Mechanismus der sensibeln Nerven- masse besteht, ist uns freilich noch vollständig dunkel, und alles darüber Geäusserte gehört lediglich in’s Bereich willkürlicher Ver- muthungen und Speculationen.
Immer entschiedener und berechtigter tritt et in neuerer Zeit die Anschauung hervor, dass einer grossen Anzahl von Neural- gien ein mittelbares, prädisponirendes Moment zu Grunde liegt: eine Constitutionsanomalie, die in einer ungewöhnlichen abnormen Funetionirung des Nervensystems überhaupt, oder speciell einzelner Theile des sensibeln Nervenapparates zum Ausdruck gebracht wird.
Man kann demnach viele Neuralgien der von Griesinger auf- gestellten Klasse der constitutionellen Neuropathien zurechnen, wohin auch die epileptischen Zustände, Hysterie, zahlreiche Krampf- und Lähmungsformen, Geisteskrankheiten u. s. w. gehören.
Eine wesentliche Stütze findet diese Anschauung in dem unver- kennbar bedeutenden Einfluss der Heredität: in dem häufigen Vor- kommen von Neuralgien bei bestimmten Familien, sowohl in aufein- anderfolgenden Generationen wie bei verschiedenen gleichzeitig leben- den Mitgliedern; und zwar, was noch wichtiger ist, bei Familien, die oft gleichzeitig zu anderen constitutionellen Neurosen — zu Epilepsie, Lähmungen, Hysterie, Geistesstörungen u. s. w. — praedisponirt sind. Oft lässt‘ sich constatiren, dass einzelne Mitglieder solcher Familien an Neuralgien leiden, während Andere an schweren motorischen und psychischen Neuropathien oder an Neurosen aus verschiedenen Ner- vengebieten gleichzeitig erkranken. — Dieses hereditäre Vorkommen, diese Coincidenz und: Alternation mit anderweitigen constitutionellen Neuropathien muss wahrscheinlich auf eongenitale, in der pri- mären Anlage des centralen Nervenapparates begründete Anomalien zurückgeführt werden.
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52 Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
Die Definitionen jedoch, durch welche man die Natur dieser con- genitalen Anomalien überhaupt, und speciell in Rücksicht auf die Genese der Neuralgien auszudrücken gesucht hat, entbehren für jetzt noch beinahe jedes factischenAnhalts. Dies gilt u. A. auch für die neuerdings von Anstie*) verfochtene Theorie, welche das Wesen aller Neuralgien in einer Atrophie oder einem zu Atrophie führenden Processe der hinteren (resp. sensibeln) Wurzeln oder der mit ihnen innigst zusammenhängenden grauen Centralsubstanz findet.
Anstie stellt sich vor, dass bei der ursprünglichen Anlage des nervösen Centralapparates einzelne Zellen und Faserabschnitte so an- gelegt sind, dass sie nur relativ kurze Zeit hindurch eine vollkommene Existenz führen können. Alle im Laufe der Zeit einwirkenden schäd- lichen Einflüsse werden auf diesen congenitalen Locus minoris resisten- tiae schwerer als auf den hest des Organs drücken; so z. B. peri- pherische Erkältungen, Nervenverletzungen, psychische Erschütte- rungen und fortgesetzte alcoholische Excesse, welche zu den häufigsten unmittelbaren Veranlassungen von Neuralgien gehöreu; ferner die grossen critischen Vorgänge der Pubertät, der Gravidität und der Involution, und die senilen Ernährungsstörungen, namentlich atheromatöse Degeneration der Gefässe. Der Einfluss aller dieser Momente auf das Zustandekommen von Neuralgie besteht nach Anstie darin, dass die urspünglich nur unvollkommen angelegten Zellen und Fasern in einen Zustand positiven Krankseins übergeführt werden, der mit ausgesprochener Atrophie endigt. — Anstie bleibt jedoch die Beweise für letztere Behauptung ganz und gar schuldig, da die von ihm angeführten Thatsachen nur die Wahrscheinlichkeit einer congenitalen Prädispositon überhaupt, nicht aber eines zur Atrophie führenden Processes in den sensibeln Wurzeln und ihren centralen Endstätten bei den Neuralgien bekunden. | Nächst der Heredität spielen die Einflüsse von Lebensalter m Geschlecht unter den prädisponirenden Momenten eine hervorragende Rolle. Inwiefern sich diese Einflüsse statistisch in der relativen Fre- quenz der Neuralgien bei verschiedenen Altersstnfen und Geschlech- tern bemerkbar machen, vergl. $. 32. Hier sei nur Folgendes bemerkt: Das kindliche Alter hat so gut wie keine Prädis- position zu Neuralgien. Mit dem Eintritte der Pubertät dagegen ändert sich die Sache, und die Prädisposition zu Neuralgien ist
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*) Reynolds, System of medicine, Vol. II. (London 1868.) pag. 743.
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gerade in der Zeit der Pubertätsentwickelung und bald darauf ziemlich bedeutend. Das ganze mittlere Lebensalter ist zu Neur- algien in hohem Grade prädisponirt, wozu bei beiden Geschlechtern die complieirteren, eingreifenderen, mit physischen und psychischen Erschütterungen verbundenen Verhältnisse zur Aussenwelt — bei Frauen insbesondere die Catastrophen der Gravidität, des Wochen- betts u. s. w. — mannichfach beitragen. Mit dem höheren Alter versiegen diese prädisponirenden Momente mehr und mehr, während dagegen senile Ernährungsstörungen, namentlich Arteriosklerose, vi- carlirend eintreten, so dass die Prädisposition zu Neuralgien im Grei- senalter zwar abnimmt, ohne jedoch gänzlich zu schwinden.
Anämie nnd ein im Allgemeinen mangelhafter Ernährungszu- stand, oder höhere Grade von Kachexie können in jedem Alter als prädisponirende Momente für das Entstehen von Neuralgien be- trachtet werden. Ihr Einfluss ist mehr ein indirecter, d.h. dieselben einwirkenden Schädlichkeiten führen bei anämischen und kachecti- schen Individuen leichter Neuralgien herbei, als bei Personen von nor- maler Ernährung. In demselben Verhältnisse stehen die anämischen und kachektischen Zustände auch zur Pathogenese motorischer Reizerscheinungen (Spasmen und Convulsionen). Wir sprechen hier von Anämie natürlich nur als von einer allgemeinen, so zu sa- gen dyskrasischen. Oertliche circumscripte Anämien gehören auch zu den unmittelbaren Veranlassungen von Neuralgien, und haben als solche bei einzelnen Neuralgien (z. B. Hemikranie) evidente Be- deutung. |
$. 31. Unter den directen Veranlassungen von Neuralgien sind zunächst traumatische Verletzungen der Nervenstämme hervorzuheben. Man hat Neuralgien häufig nach vollständigen und unvollständigen Continuitätstrennungen der Nervenstämme, nach Un- terbindungen derselben, nach Stichwunden, Schussverletzungen, ein- gedrungenen fremden Körpern u. s. w. beobachtet. Diese Neural- gien werden durch die nachgewiesenen anatomischen Veränderungen, welche consecutiv an traumatisch verletzten Nerven auftreten, einiger- maassen erklärlich. Wir können hier eine doppelte Reihe von Ver- änderungen [unterscheiden. Die einen bestehen in einer intersti- tiellen Neuritis, wobei die Nervenfasern gar nicht oder nur in- direct (durch Compression von Seiten des hyperplastischen Bindege- webes) affieirt werden; die anderen dagegen in hyperplastischen Ver- änderungen an den Nervenfasern selbst, in der Bildung wahrer
594 Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
traumatischer Neurome. Letztere müssen unzweifelhaft als die Hauptursache der ebenso häufigen als schweren und hartnäckigen Neuralgien aufgefasst werden, welehe man nach Continuitätstrennun- gen grösserer Nervenstämme (namentlich in Amputationsstümpfen), naeh Unterbindung von Nervenstämmen, Eindringen fremder Körper u. s. w.- beobachtet. Am häufigsten und entwickeltsten hat man diese trau- matischen Neurome nach vollständiger Continuitätstrennung grösserer Nervenstämme, besonders bei Amputationen, angetroffen, und daher auch als cicatricielle oder Amputationsneurome beschrieben, Es handelt sich hier, nach der Darstellung von Virchow*), um knotige Anschwellungen der durchschnittenen Nerven, welche mit der allgemeinen Narbe der Weichtheile verwachsen sind und zuweilen (sofern es sich um benachbarte Stämme handelt) untereinander zu einem Knoten verschmelzen. Diese Knoten sitzen meist unmittelbar am Ende des durchschnittenen Nerven, zuweilen jedoch auch etwas darüber, in der Continuität, auf. Sie können eine sehr verschiedene Grösse erreichen, zum Theil entsprechend der Grösse des Nerven, an welchem sie sich entwickeln, so dass man die grössten am Stamme des Ischiadicus und der grösseren Armnerven findet. Oft sind sie in hohem Grade empfindlich, oft dagegen indolent: eine Differenz, welche durch die Beschaffenheit der Geschwulst selbst: (namentlich durch ihren grösseren oder geringeren Gefässreichthum) bedingt zu ° sein scheint. Immer jedoch besteht ihre Hauptmasse nicht, wie man früher fälschlich annahm, aus fibrösem Gewebe, sondern aus einem dlichten Geflecht markhaltiger oder zum Theil auch blasser, markloser Nervenfasern, mit verhältnissmässig wenig Bindegewebe, wobei die Faserzüge des Nervenstammes sich unmittelbar in den Nervenknoten hinein deutlich verfolgen lassen.
Obwohl diese wahren Neurome vorzugsweise an Amputations- stümpfen gefunden worden sind, so existiren doch in der Literatur Beispiele genug, in welchen dieselben nach anderweitigen Verletzun- gen der Nervenstämme, zum Theil unter heftigen neuralgischen Er- scheinungen, angetroffen wurden. Portal und Beclard haben solche Fälle berichtet, in denen der Ischiadicus oder ein Ast desselben nach Oberschenkelamputationen in die Ligatur gefasst wurden (vergl. Ischias). Molinelli hat nach Ligatur der Brachialis kugelige Anschwellungen der Nerven an der Ligaturstelle beobachtet. Auch
*”) Die krankhaften Geschwulste, Dritter Band, erste Hälfte (Berlin 1867) pag. 249 ff.
Neuralgien. i 55
in einem Falle, wo der Rückenzweig des Radialis verletzt war, wurde von Beelard eine olivengrosse Anschwellung am centralen Ende des Nerven in der Narbe gefunden. Weismann beobachtete an sich selbst nach einer Glasverletzung nahe an der Volarseite des Daumens, wobei ein Ast des Medianus getroffen wurde, in der schmerzhaften Narbe die Bildung einer kleinen Geschwulst, die sehr empfindlich war und endlich exstirpirt wurde. Sie bestand wesentlich aus markhal- tigen Primitivröhren. Sehr interessant ist ein von Dehler beschrie- bener Fall, in welchem sich auf traumatischen Anlass am Halse eine Geschwulst entwickelte, die, wie die post mortem vorgenommene Un- tersuchung ergab, am zweiten Cervicalnerven sass und zwischen atlas und epistropheus in den Wirbelcanal eindrang. Sie stellte, nach der microscopischen Untersuchung von Förster, ein wahres Neurom dar.
Solche Erfahrungen berechtigen uns hinlänglich, die Ursache von Neuralgien nach traumatischen Nervenverletzungen häufig in der Bil- dung von Neuromen zu suchen, auch da, wo zwar eine Geschwulst am Nerven vorhanden, der directe Beweis für die neuromatöse Natur derselben jedoch nicht geführt ist. Namentlich gehören dahin die Fälle, wo sich langsam nach Nervenverletzungen eine schmerzhafte Geschwulst an der Verletzungsstelle entwickelte und oft jahrelang neuralgische Schmerzen hervorrief, die nach Exstirpation der Ge- schwulst vorübergehend oder dauernd aufhörten. Solche Fälle sind von Dupuytren, Grainger, Adams, Denmark, Reich, Wutzer und Anderen berichtet. In einzelnen Fällen haben nachweisbare Ver- wundungen von Nervenästen, eingedrungene fremde Körper (z. B. eine im Nerven stecken gebliebene Kugel), in anderen Stichverletzun- gen, ein Fall auf einen spitzen Körper, selbst ein heftiger Griff an den Arm die Neurombildung veranlasst (vergl. Neuralgia brachialis). — Die interstitielle Neuritis kann ebenfalls Geschwülste am Nerven hervorrufen, die sich ganz ähnlich wie Neurome verhalten, jedoch häufig in Zertheilung übergehen, wenn der primäre Reiz (z. B. ein eingedrungener fremder Körper) beseitigt ist. Hierher dürften wahr- scheinlich Fälle zu rechnen sein, wie die von Jeffreys, Dieffen- bach und Anderen beobachteten, wo eine seit Jahren bestehende Neur- algie nach Extraction oder spontaner Ausstossung eines unter der Haut sitzenden fremden Körpers vollständig cessirte. In dem Jef- freys’schen Falle handelte es sich um ein Stück abgebrochenes Por- cellan, welches 14 Jahre lang in der rechten Backe eines Mädchens sass und täglich die heftigsten Anfälle von Trigeminus - Neuralgie hervorrief. Dieffenbach sah eine äusserst intensive, mit hoch-
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gradigen örtlichen Ernährungsstörungen verbundene Armneuralgie nach Incision einer Narbe in der Vola manus und Elimination eines kleinen Glassplitters vollständig heilen. Smith sah eine Geschwulst des Ulnaris, die sich ganz wie ein Neurom verhielt, schwinden, nachdem etwa 3 Monate nach dem ersten Auftreten der Symptome eine verrostete Stecknadel in der Nähe der Geschwulst eliminirt war.
Diesen offenbar localen Entstehungen von Neuralgien durch trau- matische Neurome und interstitielle Neuritis gegenüber ist anderer- seits die Thatsache beachtenswerth, dass zuweilen nach Nerven- verletzungen Neuralgien nicht im Gebiete des verletzten, sondern eines andern, unverletzt gebliebenen Nerven- stammes auftreten Anstie erwähnt zwei Fälle, in welchen durch ein Trauma der N. ulnaris, und einen dritten, in wel- chem der N. oceipitalis vollständig durchtrennt war; in allen dreien wurde eine consecutive Neuralgie im Gebiete des Trige- minus beobachtet. Der Zusammenhang kann hier offenbar nur durch die Öentra vermittelt werden, indem die an der Verletzungsstelle er- zeugte Erregung centrifugal fortgeleitet und in der Medulla oblon- gata auf die sensibeln Trigeminus-Ursprünge übertragen wird. Der viel gemissbrauchte Name „ Reflexneuralgien “ würde einigermaassen hierher passen, insofern die Neuralgie, analog dem Reflexvorgange, central entsteht, auf Grund einer zum Entstehungsorte fortgepflanz- ten peripherischen Erregung. Solche Fälle begünstigen in hohem Grade die Annahme prädisponirender Momente, die in der ursprüng- lich schwächeren Organisation einzelner Abschnitte des centralen Nervenapparates beruhen.
Den traumatischen Neuralgien reihen sich zunächst diejenigen an, welche durch anderweitige mechanische Insultationen der Ner- venstämme, aus organischer Veranlassung, bedingt werden. Zweierlei ist hierbei namentlich hervorzuheben. Einmal sind ausserordentlich häufig Knochenleiden die Ursache von Neuralgien, in Folge der Compression oder secundären Erkrankung, welcher die in Knochen- canälen, durch Löcher, Incisuren, oder über Knochenvorsprünge ver- laufenden Nervenäste bei Localaffectionen dieser Theile ausgesetzt werden. Die Befunde, welche bei Gelegenheit von Trigeminus- Re- sectionen (wegen Prosopalgie) gemacht wurden, haben nach dieser Richtung hin werthvolle Ergebnisse geliefert. Häufig hat man Abplattung und Atrophie der Nerven in den durch Pe- riostitis oder concentrische Hypertrophie verengten Gesichtscanälen
Neuralgien. 57
gefunden. Oft erschien an den verengten Stellen das Neurilem geröthet, ecchymosirt, serös infiltrirt, oder von fibrinösem Exsudat umgeben; zuweilen bestanden auch in Folge abgelaufener Entzün- dungen partielle Verdiekungen des Neurilems (fibröse Knoten), und Trübungen des Nervenmarks an den entsprechenden Stellen. Aehnliches ist auch bei anderen Neuralgien beobachtet (Neur- algia brachialis, Ischias). — Ein zweites beachtenswerthes Mo- ment ist der Umstand, dass Neuralgien auffallend häufig durch Geschwülste veranlasst werden, welche nicht einen permanenten, gleichmässigen, sondern einen discontinuirlichen, ungleichmässi- gen oder intermittirenden Druck auf den darunterliegenden Ner- venstamm ausüben. ‘So scheinen z. B. die Pulsationen von erwei- terten Arterien und Aneurysmen vermöge der periodisch erfolgenden, stossweisen Erschütterung ganz besonders heftige, neuralgische Er- regungen benachbarter Nerven hervorzurufen. Wir sehen Neuralgien des Trigeminus als Symptom von Aneurysmen der basalen Hirnarterien, namentlich der Carotis interna, — Ischias als Symptom von An- eurysma popliteum auftreten. Ebenso wirken Erweiterungen der Ve- nen, Varicen und cavernöse Geschwülste, namentlich in solchen Thei- len, wo besondere locale Momente, Klappenlosigkeit der Venen u. dgl. den häufigen Eintritt venöser Stauungen und damit verbundener inter- currenter Steigerungen des auf den Nerven geübten Druckes begün- stigen. Erweiterungen und Varicositäten des den Ischiadicus um- spinnenden Venenplexus — der klappenlosen Wurzelvenen der Hypo- gastrica — sind wahrscheinlich eine häufige Ursache von Ischias. Auch Hernien gehören hierher, insofern dieselben Stücke des Darm- rohrs enthalten, deren Füllung und Ausdehnung durch feste, flüssige, gasförmige Contenta in hohem Grade varlirt. So kann Hernia ob- turatoria Neuralgien des gleichnamigen Nerven, — Hernia ischiadica Ischias hervorrufen. Endlich sind es überhaupt vorzugsweise mit ‚Flüssigkeiten gefüllte oder aus weicher, saftreicher Masse bestehende Geschwülste — weit häufiger als Tumoren von gleichmässig fester, derber Consistenz —, welche Neuralgien bewirken: Cysten oder eystische Geschwülste, medulläre Careinome, Myxome. Sehr auffallend scheint mir in dieser Beziehung, dass unter den vom Neurilem ausgehenden Geschwülsten (Pseudoneuromen), welche als Ursaehe von Neur- algien eine operative Entfernung erheischten, sich offenbar häufiger Myxome und Cystomyxome erwähnt finden, als Fibrome und Gliome, obwohl doch die letzteren Geschwulstformen der Frequenz nach an den Nervenstämmen weitaus überwiegen.
58 Neurosen der Tast- und: Gefühlsnerven.
Gleich den Gliomen und Fibromen der Nervenstämme scheinen auch die spontanen (d.h. nicht traumatischen) wahren Neurome relativ seltener zu Neuralgien Veranlassung zu geben. Exacte Be- obachtungen liegen allerdings nicht in grosser Zahl vor, da man früher vielfach Pseudoneurome (namentlich Fibrome und Gliome) mit wahren Neuromen identificirte, oder auch umgekehrt harte Neurome für heterologe Neubildungen (Skirrhen, Steatome u. s. w.) erklärte. Namentlich wurden die amyelinischen Neurome meist zu den soge- genannten fibrösen oder auch fibronucleären Geschwülsten gerechnet. Bei den meisten in der Literatur enthaltenen Fällen sogenannter multipler Neurome ist es nicht zu entscheiden, ob es sich dabei um wahre Neurome oder um anderweitige, besonders fibromatöse Neu- bildungen handelte. In einem Theile dieser Fälle werden heftige, spontane, namentlich bei Witterungswechsel gesteigerte Schmerzan- fälle ausdrücklich beschrieben (so z. B. in einem Falle von Nelaton). Wahrscheinlich ist es dabei von Bedeutung, ob das Neurom an einem Nerven total oder partiell ist, d. h. ob der Nerv mit sämmtlichen oder nur mit einem Theile seiner Fasern in die Neurombildung ein- tritt. Im letzteren Falle (wobei das Neurom central, peripherisch oder lateral gelegen sein kann) geht ein Theil der Fasern neben dem Neurom vorüber, und wird durch dasselbe gedrückt und gespannt, wodurch bald neuralgische Schmerzen, bald (bei stärkerem Drucke) Anästhesien und Lähmungen bedingt werden können. — Die Grösse. des Neuroms kommt an sich weniger in Betracht; sehr grosse Neu- rome (wie sie z.B. Dubois, Stromeyer, Smith und Andere ex- stirpirten) können relativ schmerzlos verlaufen, während viel kleinere Geschwülste derselben Art oft die heftigsten neuralgischen Erschei- nungen hervorrufen.”)
Sehr dunkler Natur ist die Beziehung, in welcher Neuralgien zu den sogenannten Tuberculosa dolorosa (painful tubereles, nach William Wood, 1812) stehen. Es sind dies bekanntlich subcutane, bewegliche Geschwülste von meist unneträchtlicher Grösse, die auf Druck in der Regel ungemein empfindlich sind und häufig den Aus- gangspunkt neuralgischer, zuweilen auch epileptiformer Symptome darstellen. Diese kleinen Knoten treten meist vereinzelt, nur aus- nahmsweise in multipler Form auf; sie sind zuweilen anfangs schmerz- los und werden erst im weiteren Verlaufe spontan und auf Druck _ schmerzhaft oder bleiben sogar öfters ganz unempfindlich. In anderen
”) Vgl. Virchow. 1. c. pag. 280-305.
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Neuralgien. 59
Fällen erzeugen sie äusserst heftige Schmerzparoxysmen von ver- schiedener Dauer, die sich über die Nachbartheile in grösserer oder geringerer Ausdehnung verbreiten. Zuweilen ist während des Par- oxysmus eine Anschwellung des Knotens mit Röthung und teigiger Beschaffenheit der bedeckenden Haut nachweisbar. Die Schmerzan- fälle scheinen besonders durch Witterungswechsel provocirt zu wer- den; häufig fallen sie auch bei Frauen mit der Menstruation zusam- men; in einem Falle (von Bisset) traten sie jedesmal in der Gravi- dität besonders verstärkt auf. Nach Exstirpation der Knoten sah man die Erscheinungen häufig verschwinden, so dass ein ätiologischer Connex unzweifelhaft vorliegt. — Was nun die Natur dieser Tubereula und speciell ihren Zusammenhang mit dem Nervensystem betrifft, so bestehen nach dieser Richtung hin noch zahlreiche Pro- bleme. Einzelne (Meckel, Dupuytren) haben sie zu den fibrösen Geschwülsten — Andere schlechtweg zu den Neuromen gerechnet; Öraigie bezeichnet sie als kleines Neurom (Neuromation). Schuh und v. Baerensprung. haben auf den Reichthum an Gefässschlin- gen aufmerksam gemacht; Ersterer erklärt die meisten als Tubereu- losa dolorosa bezeichneten Geschwülste für Blutschwämme. In ein- zelnen Fällen zeigte sich die Geschwulst wesentlich aus Muskelzellen (Billroth), in anderen nur aus dichterem oder weicherem Binde- gewebe oder faserknorpligem Gewebe bestehend. Auch das Verhält- niss zu den Nerven scheint ein sehr inconstantes zu sein. Virchow sah in solche schmerzhaften subeutanen und cutanen Geschwülste Nerven unzweifelhaft eintreten, ohne jedoch an der Zusammensetzung der Geschwulst einen prävalirenden Antheil zu nehmen. Dagegen konnte er einmal, bei einem Tuberculum dolorosum am Knöchel, sich überzeugen, dass nicht nur ein Nerv ein- und austrat, sondern dass auch der etwa bohnengrosse Knoten fast ganz aus marklosen Nerven- fasern bestand. Andere sorgfältige - Untersuchungen konnten weder einen Zusammenhang mit Nerven, noch ein Vorkommen von Nerven im Innern der Geschwulst nachweisen. Dieser negative Befund ist jedoch, nach Virchow, nicht entscheidend, da es sich in Bezug auf die Verbindung mit Nerven um äusserst feine Fädchen handelt, und die Nerven im Innern von bindegewebigen Theilen schwer unterscheid- bar sind. Indessen werden doch auch da, wo die Nerven deutlich sind, zuweilen nur sehr wenige gefunden (wie in einem Falle von Vallender), so dass die Geschwulst jedenfalls nicht wesentlich ner- vöser Art ist. — Axmann hat auf Grund der zuweilen beobachte- ten concentrischen Schichtung die Geschwulst für ein krankhaft ver-
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grössertes Pacinisches Körperchen erklärt: eine Hypothese, die bis jetzt noch einer anderweitigeu Bestätigung ermangelt. Wahrschein- lich sind wenigstens viele (wenn auch nicht alle) Tubercula bedingt durch Pseudoneurome, in einzelnen Fällen auch durch wahre Neurome, welche an kleinen, vorzugsweise sensibeln Nervenästchen der Haut aufsitzen.
Nächst den traumatischen und mechanischen Momenten spielen als Gelegenheitsursachen von Neuralgien diejenigen Einflüsse, welche wir im ‚Allgemeinen unter der Bezeichnung der rheumatischen zusammenfassen, eine unläugbare Rolle. Es handelt sich hier vor- zugsweise um atmosphärische Schädlichkeiten, mögen dieselben in rein physikalischen, von aussen her auf den Organismus einwir- kenden Vorgängen bestehen, wie die eigentlichen Erkältungsan- lässe (niedere Temperatur, Wind, Zugluft) — oder in wesentlich chemischen Processen, in Ent- und Beimischungen, die von innen her in Form der Infeetion auf den Organismus einwirken. Die spe- cielle Natur der Veränderungen, welche durch die rheumatischen Noxen im Nerven eingeleitet werden, ist uns in beiden Fällen noch vollständig dunkel. Es lässt sich nicht in Abrede stellen, dass manche Neuralgien, welche in Folge von Erkältungsanlässen entstehen, auf einer Neuritis oder Perineuritis zu beruhen scheinen; dies gilt aber keineswegs für alle oder auch nur für die meisten derartigen Fälle, und es liegt somit kein Grund vor, um alle rheumatischen Neuralgien auf eine Neuritis zurückzuführen, wie es von verschiedenen Seiten geschehen ist. — Der Einfluss der eigentlichen Erkäl- tungsanlässe macht sich an einzelnen Nervenstämmen (z. B. am Ischiadieus) in viel höherem Grade bemerkbar, als in andern Nerven- gebieten. Ebenso verhält es sich auch mit den Schädlichkeiten, welche durch Infection wirken. Das evidenteste Beispiel davon liefert die Malaria, welche sehr zahlreiche, aber fast ausschliesslich auf ein- zelne Nervenäste (namentlich den Frontalis) localisirte Neuralgien veranlasst.
Von den eigentlichen Dyskrasien kann Syphilis zur directen Ursache von Neuralgien werden: theils durch Entwickelung specifischer Geschwülste (syphilitischer Gummata) in den Nervenstämmen und Centren; theils durch Hervorrufung chronischer irritativer Processe, sei es an den Nervenscheiden, den häutigen Umhüllungen des Ge- hirns und Rückenmarks, oder vor Allem an den Knochen und Knochen- häuten (syphilitische Osteitis und Periostitis). Weit zweifelhafter ist der Einfluss der Gicht, welche in seltenen Fällen vielleicht durch Neuritis
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oder Ablagerung tophascischer, kalkartiger Massen inden Nervenstämmen auf direetem Wege Neuralgien hervorruft. Man hat der Gicht sowohl auf das Zustandekommen oberflächlicher Neuralgien (Ischias) wie auch visce- raler Neuralgien (Angina pectorisu.s. w.) einen sehr grossen Einfluss zu- geschrieben; wahrscheinlich ist dieser Einfluss Jedoch mehr ein indirecter und beruht hauptsächlich auf den Cireulationsstörungen, welche in manchen Fällen durch chronische Leberleiden, in anderen durch Er- krankungen des Herzens und der Blutgefässe (z. B. Klappenleiden und \erengerungen der Kranzarterien bei Angina pectoris) herbeige- führt werden. |
Unter den toxischen Ursachen ist besonders die Bleivergiftung hervorzuheben, welche die eigenthümlichen, unter dem Namen der Blei- kolik (Colica saturnina) bekannten visceralen Neuralgien veranlasst. Der Sitz und die pathologische Anatomie der letzteren ist noch ziemlich dunkel; es steht dahin, ob sie, wie einzelne ältere Beobachter an- nehmen, spinalen Ursprungs sind, oder peripherischen Veränderungen im Darmrohr selbst, in den sympathischen Nervenstämmen, Plexus und Ganglien ihren Ursprung verdanken. Für eine Betheiligung des Sympathicus scheinen einzelne Obductionsbefunde, sowie vorwaltend clinische Gründe zu sprechen (vgl. Neuralgia mesenterica). — Auch cutane Neuralgien können unter dem a potiori gewählten Aus- druck der Arthralgia saturnina bei chronischer Bleiintoxication vor- kommen. Seltener werden durch andere Metallvergiftungen (mit Queck- silber, Kupfer u. s. w.) den saturninen sehr ähnliche Neuralgien veran- lasst. — Auch verschiedene nicht-metallische Gifte können Neuralgien zur Folge haben; so z. B. Alcohol, Nicotin. — Das Weitere vgl. bei den einzelnen Neuralgien.
$. 32. Für die Häufigkeit der Neuralgien und ihre Ver- theilung nach Altersstufen und Geschlecht mögen die fol- genden Ziffern einen Anhaltspunkt geben. Dieselben sind ausschliess- lich dem Krankenstande der medieinischen Universitäts-Polielinik in den letzten 15 Monaten entnommen. Alle zweifelhaften Fälle, sowie auch sämmtliche viscerale Neuralgien sind dabei weggelassen, und nur die oberflächlichen (cutanen) Neuralgien — mit Einschluss der Hemikranie — berücksichtigt.
Während des obigen Zeitraums wurden im Ganzen 6844 Fälle polielinisch behandelt, unter denen sich 106 (oberflächliche) Neural- gien befanden — ca. !%, aller vorgekommenen Erkrankungen überhaupt. Unter diesen 106 Fällen gehörten 30 dem männlichen
und 76 dem weiblichen Geschlechte an: also ein Verhältniss von ca.
——
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1: 2,5. Dieses Verhältniss gilt jedoch nur für die Frequenz der Neuralgien im Allgemeinen; dagegen nicht im Geringsten für die Fre- quenz der einzelnen Neuralgien. Es giebt Neuralgien, welche bei Frauen unendlich viel häufiger sind, als bei Männern (z. B. Neuralgia trigemini, Hemikranie, Intercostal - Neuralgie) — während andere (Brachial-Neuralgie, Ischias) umgekehrt bei Männern beträchtlich häu- figer sind, als bei Frauen. Der Grund liegt wohl in dem differenten Verhalten beider Geschlechter gegenüber den speciell in Betracht kommenden Gelegenheitsursachen; so z. B. bezüglich der Ischias in der stärkeren Exposition der Männer gegen körperliche Anstrengun- gen und schädliche atmosphärische Einflüsse. Die folgenden Tabel- len mögen die Frequenz der einzelnen Neuralgien und die ungleiche Betheiligung beider Geschlechter an denselben erläutern. Es befan- den sich unter jenen 106 Neuralgien Fälle von | Neuralgia N. trigemmi 29
Hemikranie 15 Neuralgia oceipitalis 12 Neuralgia brachialis 6 Neuralgia intercostalis 27 Neuralgia lumbalis 3 Ischias 14 106 Diese vertheilen sieh nach dem Geschlecht folgendermaassen: Männer. Weiber. Neuralgia N. trigemini 5 24 Hemikranie 2 13 Neuralgia oceipitalis 2 10 Neuralgia brachialis 4 2 Neuralgia intercostalis 5 22 Neuralgia lumbalis 3 _ Ischias 11 3 | wa30) 300
Was die Vertheilung auf die verschiedenen Lebensalter betrifft, so fielen unter 101 Fällen, bei denen die Altersangaben vorliegen, in die Zeit von 7—19 Jahren 6
20—29 ,„ 19 80—39 „ 33 40—49 „ 2 50—59 „ 14 60—69 „ 6 1
Neuralgien. 63
Das Maximum fällt demnach sehr entschieden in die Jahre von 30—3», also in das mittlere, völlig entwickelte, männliche und weib- liche Lebensalter. Dieses Ergebniss stimmt mit dem, was oben über die Prädisposition der verschiedenen Lebensalter zu Neuralgien bemerkt wurde, überein. Vor und nach dem vierten Lebens- decennium fällt die Curve der Frequenz nach beiden Seiten allmälig, und ziemlich gleichmässig, ab. Unter dem 7. und nach dem 70. | Lebensjahre wurden keine genuinen Neuralgien beobachtet. — Wie sich übrigens das Altersverhältniss bei den einzelnen Neuralgien mo- difieirt, werde ich später erwähnen; hier sei nur noch bemerkt, dass die wenigen (2) unter dem 10. Lebensjahre notirten Fälle Hemikra- nien — und zwar auf entschieden hereditärer Basis — betrafen.
$. 33. Diagnose. — Wie am Eingange dieses Capitels er- örtert wurde, ist die Neuralgie nur als ein Symptom oder als ein Symptomencomplex zu betrachten, bedingt durch einen innerhalb des Nervenapparates befindlichen Krankheitsheerd, über dessen Natur aus der Existenz der Neuralgie allein noch nichts präjudieirt wird.
Da somit der Begriff der Neuralgie nur ein symptomatischer ist und da ihre cardinalen Symptome ebenso einfacher als charak- teristischer Natur sind, so scheint es kaum möglich, im gegebenen Falle über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Neur- algie Zweifel zu hegen, oder bei Diagnose der letzteren in Irrthum zu verfallen. Dennoch lehrt die tägliche Erfahrung das Gegentheil, und namentlich werden eine grosse Anzahl schmerzhafter Krankheits- | zustände für Neuralgien erklärt, welche auch nicht den entferntesten Anspruch auf diesen Titel besitzen. Wendete man die in der Ein- ] leitung besprochenen Criterien auf alle angeblichen Neuralgien an, so ı müsste man unzählige derselben ihres angemaassten Namens und Ran- | ges verlustig erklären. | Das Punetum saliens für die Entscheidung der Frage: ob Neur- 4 algie oder nicht? — ist für die elinische Betrachtung nicht, wie Viele 4 irrthümlich meinen, in dem Vorhandensein oder Mangel palpabler Läsionen zu suchen, sondern einzig und allein in den Symptomen. Dieselbe Läsion kann bald Neuralgien, bald schmerzhafte Affectionen 4 nichtneuralgischer Art hervorrufen. Die traumatische Verletzung ] eines sensibeln Nerven z. B. kann Neuralgien des verletzten — und | sogar, wie wir sahen, eines nicht verletzten — Nerven veranlassen; | sie kann aber auch bloss excentrische Schmerzen herbeiführen, welche weder die Intensität, noch die Ausstrahlungsweise, noch die Periodicität
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der neuralgischen darbieten; welche mit einem Worte in Nichts an den pathognomonischen Habitus der Neuralgien erinnern. Er würde eine heillose Verwirrung in die Nervenpathologie und in die Therapie bringen, wollte man auch Fälle dieser Art unterschiedslos als Neur- algien bezeichnen.
Eine nicht traumatische Neuritis kann (wiewohl selten) unter neur- algischen Erscheinungen verlaufen; sie kann aber auch ein ganz ab- weichendes Krankheitsbild darbieten, und es ist daher unmöglich, wie Manche gewollt haben, Neuralgie und Neuritis kurzweg zu identifici- ren, oder wenigstens die idiopathischen Neuritiden als eine bestimmte Gruppe von Neuralgien zu charakterisiren. Neuralgie und Neuritis sind Begriffe, welche sich nur theilweise decken, theilweise aber ihr für sich bestehendes Terrain beanspruchen. Das Gleiche gilt für die wahren und falschen Neurome, die Tubercula dolorosa und überhaupt für alle anatomisch charakterisirten Affeetionen, welche mehr oder minder häufig unter neuralgischen Symptomen einhergehen.
Nur allzuleicht werden. ferner die verschiedensten schmerzhaften Affectionen der Haut, der Muskeln, der Knochen und Gelenke als „neuralgische “* bezeichnet, obwohl auch hier mehr oder weniger alle Criterien fehlen, welche den symptomatischen Begriff der Neuralgie ausmachen. Es gehören hierher zahllose Fälle, welche man sonst wohl auch mit dem hergebrachten Ausdrucke Rheumatismen, Muskel- und Gelenkrheumatismen u. s. w., abfertigt. Ganz nach Willkür wer- den z. B. viele schmerzhafte Affeetionen in der Schultergegend bald unter die Rubrik der Schultergelenkrheumatismen, bald der Neuralgia cervicobrachialis subsumirt, und letztere reerutirt sch — wie die Neuralgia brachialis überhaupt — vorzugsweise aus schmerzhaften Affectionen, die genau genommen nichts weniger als neuralgischer Art sind. So wenig es zu billigen ist, dass man sich in vielen Fällen, die eine exactere Diagnose ermöglichen, mit dem vagen und nichts- sagenden Ausdrucke „Rheumatismus“ begnügst, so wenig wird diesem Uebelstande doch abgeholfen, indem man den Fall unter eine Cate- sorie versetzt, in welche er seinem clinischen Bilde und Verlaufe nach sar nicht hineinpasst. Die Licenz im Gebrauche des Ausdrucks „Neuralgie* für schmerzhafte Affectionen, bei welchen die Ursache des Schmerzes entweder gar nicht oder nur mangelhaft bekannt ist, scheint dem, mehr auf ein Nomen morbi als auf eine wirkliche Diagnose gerich- teten Streben mancher Aerzte eine gewisse Beruhigung zu gewähren. Man könnte gegen solche Schwächen toleranter sein, würde nicht die
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Therapie noch so wesentlich und beinahe unwillkürlich durch den Krankheitsnamen mit bestimmt und beeinflusst.
$. 34. Müssen wir einen Krankheitsfall vom symptomatischen Standpunkte aus als Neuralgie bezeichnen, so ist die Diagnose damit nicht abgeschlossen, sondern hat nunmehr eigentlich erst zu beginnen. Denn die wahre Diagnose ist die des Krankheitsheerdes, welcher der Neuralgie zu Grunde liegt, von welchem diese selbst eben nur das Symptom ist.
Wir haben demnach bei jeder Neuralgie zunächst zu entscheiden, ob die Affeetion — nach der gewöhnlichen Eintheilung — eine peri- phere oder eine centrale? und ferner in welcher Höhe der peripheren oder centralen Faserung der eigentliche Krankheitsheerd, das anato- mische Substrat der Neuralgie sich befindet?
Diese Fragen sind in vielen Fällen, z. B. wo es sich um Trau- men, um comprimirende Geschwülste, Knochenleiden, um Neurome, Tubereula dolorosa u. s. w. handelt, leicht und mit Sicherheit — in anderen dagegen nur unvollkommen oder gar gar nicht zu beantwor- ten. — In den zweifelhaften Fällen, wo bestimmt localisirte periphere oder centrale Läsionen nicht nachweisbar sind, muss man den Sitz des Krankheitsheerdes wesentlich aus der excentrischen Verbreitung und Ausstrahlung des Schmerzes und aus den concomitirenden, na- mentlich motorischen und vasomotorisch-trophischen Functionsstörun- ‚gen erschliessen. Einer exacten Differentialdiagnostik stellen. sich je- doch hier oft grosse Schwierigkeiten entgegen.
Man hat auch aus der Qualität des Schmerzes einen diagnosti- schen Anhaltspunkt zu gewinnen gehofft, und es ist dies neuerdings von Benedikt mit gewohntem Geist und Scharfsinn motivirt worden. Benedikt hebt hervor, dass die Höhe der Faserung in welcher der Reiz angreift, auf die Intensitätseurve des Schmerzes einen Einfluss ausübe, so dass dieselbe bei gleichartigem Reize ver- schieden ausfalle. Er sucht wahrscheinlich zu machen, dass z. B. ein entzündlicher Reiz, wenn er -die Endigungen sensibler Nerven bei einer Gelenkentzündung angreift, einen perpetuirlichen Schmerz hervorbringe — wenn er einen Nervenstamm angreift (wie bei Pe- riostitis in den Canälen der Gesichtsknochen) einen paroxysmenweisen — wenn er die Wurzeln angreift (wie bei Spondylitis) oder auf die Faserung innerhalb des Centralnervensystems einwirkt, einen lan- cinirenden, momentanen. Man könnte demnach den mehr pa- roxysmenweisen Schmerz als charakteristisch für die peripheren,
den laneinirenden für die centralen Neuralgien betrachten. Ab- Eulenburg, Nervenkrankheiten, 5
66 Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
gesehen von einzelnen Ausnahmen, die Benedikt selbst zulässt (so z. B. kann bei peripheren, durch Pulsationen eines Aneurysma’s be- dingten Neuralgien der Schmerz einen momentanen, laneinirenden Charakter haben), möchte ich prineipiell folgendes einwenden: Der von Benedikt statuirte Unterschied würde nur dann für die Loca- lisation der Neuralgien ein diagnostisches Criterium begründen, wenn: a) Reizbarkeit und Erschöpfbarkeit der Nerven sich bei der Neuralgie normal, nicht aber in abnormer Weise verhielten; b) der Reiz, welcher einen neuralgischen Anfall hervorruft, mit dem primären Krankheits- reize identisch wäre oder wenigstens immer am Sitze des letzteren selbst angriffe. Beide Bedingungen treffen jedoch nicht zu. Die Reiz- barkeit und Erschöpfbarkeit können bei Neuralgien bald excessiv, bald normal und vielleicht in einzelnen Fällen selbst unter der Norm sein; wodurch die Gestalt der Intensitätscurve des Schmerzes wesent- lich modifieirt werden muss. Ferner kann der den einzelnen Schmerz- anfall auslösende Reiz peripherisch von dem eigentlichen Krankheits- heerde angreifen, wie dies namentlich bei centralen Neuralgien wohl sehr häufig der Fall ist, wenn dieselben mit Leitungshyperalgien com- plieirt sind. Uebrigens scheint mir der Unterschied zwischen paroxys- menweisen und lancinirenden Schmerzen überhaupt nicht so durch- sreifend, um einen diagnostischen Schluss darauf zu begründen, na- mentlich wenn man die sehr zahlreichen graduellen Uebergänge zwischen beiden Erscheinungsformen des Schmerzes mit in Betracht zieht. |
$. 35. Die excentrische Verbreitung des Schmerzes ist zwar ein werthvolles diagnostisches Criterium für die Localisirung der Krank- heitsursache; jedoch gestattet sie eigentlich immer nur negative, nie- mals positive Schlüsse zu ziehen. Wenn z. B. der Schmerz das Ge- biet des Ramus mentalis, nicht aber das des auriculo-temporalis um- fasst, so ist es sehr unwahrscheinlich, dass der Krankheitsheerd dem gemeinschaftlichen Stamme des Ramus tertius N. trigemini angehört, dagegen kann eine solche Isolirung auf das Gebiet einzelner Faser- bündel sowohl bei einem oberhalb als unterhalb des gemeinschaftlichen Stammes befindlichen Krankheitsheerde vorkommen. Wenn der Schmerz ausschliesslich das Gebiet des N. peronaeus affieirt, während der Ti- bialis verschont bleibt, so liegt die Ursache wahrscheinlich nicht in dem gemeinschaftlichen Stamme des Ichiadieus: ob aber unterhalb der Abgangsstelle des N. peronaeus vom Letzteren, oder in den Wur- zeln, oder gar im Rückenmark, bleibt unentschieden. Ja, der Sitz könnte trotzdem im Stamme des Ischiadiecus sein, wenn
Neuralgien. 67
es sich z. B. um eine partielle, interstitielle Neuritis, oder um ein Neurom handelt, welches die dem Peronaeus angehörigen Bündel ver- drängt und zerrt, die übrigen dagegen intact lässt! — Wenn mehrere zu einem Plexus gehörige Stämme (z. B. Ulnaris und Radialis) gleichzeitig befallen werden, so ist — falls man nicht Ursache hat, multiple Heerde anzunehmen — hierdurch der Sitz der Krankheits- ursache unterhalb des Plexus mit grosser Wahrscheinlichkeit ausge- schlossen; ob der Krankheitsheerd aber den Plexus, die Wurzeln oder die Fortsetzungen derselben in der Faserung des Rückenmarks an- greift, bleibt auch hier zunächst fraglich.
Die Ausstrahlung des Schmerzes längs dem Verlaufe einzelner Nervenstämme gewährt, selbst in den Fällen, wo dieses Phänomen deutlich entwickelt ist, für die Localisation des Leidens keinen ge- naueren diagnostischen Anhalt. Bei einer Neuralgia radialis kann der Schmerz im ganzen Verlaufe des Radialisstammes, von der Schul- ter bis zum Handgelenk, centripetal oder centrifugal ausstrahlen, mag der Ausgangspunkt in den Radialiswurzeln oder im Stamme oder selbst in einem der peripherischen Endzweige dieses Nervenstammes, in einem kleinen Tuberculum dolorosum der Hand liegen.
Zu den diagnostisch wichtigen Complicationen gehören vor Allem die motorischen und die vasomotorisch-trophischen Symptome.
Haben wir z.B. eine sonst uncomplieirte Ischias, bei welcher zugleich motorische und vasomotorische Störungen im Gebiete des N. ischiadieus während des Anfalls oder sogar in den Intervallen auftreten, so gewinnt die Annahme, dass der Krankheitsheerd auf den Stamm des N. ischia- dieus einwirke, bedeutend an Wahrscheinlichkeit; umgekehrt nimmt diese Wahrscheinlichkeit ab, wenn motorische und vasomotorische Störungen vollständig fehlen. Eine absolute Gewissheit wird übrigens weder im einen noch im anderen Falle erreicht, ganz abgesehen da- von, dass leichtere motorische und vasomotorische Störungen über der fulminanten Erscheinung des Schmerzes oft übersehen oder nach unklaren Theorien als Folgezustände der Sensibilitätsstörung aufge- fasst werden. Im einzelnen Falle kann überdies die Deutung der vorhandenen motorischen und namentlich der vasomotorisch -trophi- schen Störungen recht beträchtliche Schwierigkeiten darbieten, welche wesentlich aus der Unsicherheit und Lückenhaftigkeit der physiolo- gischen Unterlagen entspringen, auf welche einzugehen jedoch hier noch nicht der Ort ist (vgl. besonders Neuralgia trigemini, Hemi- kranie, und die visceralen Neuralgien).
Bei Neuralgien mit centralem Sitze, innerhalb des Rückenmarks
5*
63 Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
und Gehirns, können natürlich die complieirenden Symptome sehr zahlreich und mannichfaltig sein; wir müssten die ganze Semiotik der Gehirn- und Rückenmarkskrankheiten durchgehen, um alle hier # vorliegenden Möglichkeiten zur Sprache zu bringen. Berücksichtigung
erheischt u. A. das Verhalten der Reflexerregbarkeit, die jedoch nur # dann krankhaft verändert zu sein braucht, wenn neben den neural- sischen Erscheinungen auch Hyperalgien bestehen. Alsdann finden natürlich die früheren Bemerkungen über das Verhalten der Reflex- # erregbarkeit bei peripherischen, centralen und Leitungshyperästhesien # auch hier Anwendung.
Mit welchen Vorbehalten die vorhandenen points douloureux dia- gnostisch zur Localisation des Leidens benutzt werden können, ist aus der obigen ausführlichen Darstellung dieses Gegenstandes ersicht- lieh. Ich wiederhole nur, dass subeutane Schmerzpunkte im peri- pherischen Verlaufe eines Nervenstammes, an oberflächlichen, der Palpation zugänglichen Stellen, auch bei entschieden centralem Kank- heitssitze vorkommen können, und sich wahrscheinlich auf Leitungs- hyperästhesien zurückführen lassen. — Inwieweit das Verhalten eines neuralgisch affieirten Nerven gegen den electrischen (namentlich con- stanten) Strom als diagnostisches Reagens für die Localisation des Krankheitsheerdes verwerthet werden kann, ist noch nicht vollständig ermittelt. Ich habe u. A. auffallende Anomalien des electrischen Ver- haltens bei peripherischer Ischias beobachtet (vgl. diese). Centrale Neuralgien, namentlich am Kopfe, können zuweilen die Erscheinungen excessiver Empfindlichkeit für den galvanischen Strom darbieten.
Benedikt”) giebt an: bei peripheren idiopathischen Neuralgien seien die Nerven gegen Electrieität nicht empfindlich; bei den Neur- algien, welche auf Neuritis oder Hyperämie der Nervenscheide be- ruhen, seien sie gegen Electricität empfindlich; bei einer dritten Gruppe peripherer Neuralgien, welche durch einen krankhaften Process in der Umgebung des Nerven bedingt werden, sei gewöhnlich Empfindlichkeit gegen HElectricität bloss in der Umgebung des krankhaften Heerdes vorhanden. Diese Angaben sind unzweifelhaft höchst beachtenswerth, scheinen mir aber noch einer umfassenderen Bestätigung zu bedürfen. - — Eine vierte Gruppe von Neuralgien soll sich im Uebrigen den peripheren ganz ähnlich verhalten, aber durch gleichzeitige Localisa- tion des Schmerzes in den Knochen davon unterscheiden; und es sollen diese Neuralgien stets excentrisch, d. h. durch Krankheits-
*) Electrotherapie, p. 92.
Neuralgien. 69
processe innerhalb des Schädels oder der Wirbelsäule bedingt sein. Auch über den Werth dieses — nicht immer leicht zu constatirenden — Unterscheidungsmerkmals müssen noch weiter Beobachtungen Auf- schluss ertheilen.
$. 36. Die Prognose der Neuralgien variirt in hohem Grade nach den neuralgisch ergriffenen Nervengebieten: ein Unterschied, der wesentlich durch die Differenz der vorzugsweise wirksamen ätiologi- schen Momente bedingt wird. So ist z. B. die Prognose der Ischias im Allgemeinen besser als die der Prosopalgie, weil Ischias bei Weitem seltener durch centrale und constitutionelle Anomalien, weit häufier dagegen durch periphere, mechanische oder rheumatische Insulte u, s. w. bedingt wird. Ferner haben nicht alle Nerven für den Gesammt- organismus so zu sagen dieselbe physiologische und pathologische Dienität; eine Neuralgie des Trigeminus kann z. B. ganz andere | physische und psychische Reactionen hervorrufen, wie eine In- tereostalneuralgie oder Ischias. Endlich sind auch nicht alle Neuralgien einer localen Behandlung in gleicher Weise zugänglich. Dies bedingt namentlich für die chirurgische, operative Therapie einen durchgreifenden Unterschied. Die Neuralgien oberflächlicher und rein sensibler Nerven (wie der sensibeln Trigeminusäste) gestatten chirur- gische Encheiresen, welche an den visceralen Gefühlsnerven niemals, an den gemischten Stämmen des Rumpfes und der Extremitäten nur in den seltensten Ausnahmefällen gewagt werden dürfen.
Im Allgemeinen sind natürlich Sitz und Natur der Krank- heitsursache von dominirendem Eiuflusse; doch nur unter Berück- sichtigung aller individuellen Verhältnisse, wie sie gerade der con- ‚erete Fall darbietet: prädisponirende Momente, Ernährungszustand, Dauer der Affeetion u. s. w. — Aus allen diesen einzelnen Fac- toren muss sich das prognostische Gesammtergebniss zusammensetzen, das demnach bei derselben Neuralgie und sogar bei gleichem Sitze und gleicher Natur der Krankheitsursache sehr verschieden ausfallen kann. — Die peripheren Neuralgien geben in der Majorität eine bessere Prognose als die centralen. Dies ist wesentlich dar- auf zu beziehen, dass die peripheren Neuralgien grösstentheils durch mehr aceidentelle (traumatische, mechanische, rheumatische)
Schädlichkeiten — die eentralen dagegen sehr häufig durch congeni- tale und hereditäre Momente, allgemeine Ernährungsstörungen u. s. w. bedingt werden. Man kann also den obigen Satz auch so
hinstellen: dass die mehr accidentellen Neuralgien ceteris paribus eine günstigere Prognose gestatten, als diejenigen, welche auf einer con-
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genitalen oder constitutionellen Grundlage beruhen. Die Prognose ist aber bei den peripherischen Neuralgien unzweifelhaft auch deswegen besser, weil dieselben einer direeten örtlichen Behandlung zugänglicher sind, als die centralen. |
Ferner ist zu bemerken, dess die typischen, in regelmässigen In- | tervallen wiederkehrenden, meist unter Malaria-Einfluss entstandenen | Neuralgien die beste Prognose gewähren, indem sie unter geeigneter Behandlung fast eonstant heilen. Bei den atypischen, unregelmässigen Neuralgien ist dagegen die Prognose von vornherein relativ weniger günstig; es gilt dies sowohl von den aceidentellen, als von den con- stitutionellen Neuralgien mit atypischem Verlaufe.
Das Ungünstige der Prognose bezieht sich nur auf die defini- tive Heilung der Neuralgien, nicht auf die palliative Linderung ihrer | quälendsten Symptome, welche mit den jetzen Kunstmitteln fast immer gewährleistet werden kann; noch weniger quoad vitam. Das Leben wird durch ‘die Neuralgie direct kaum jemals gefährdet. Dagegen ist nicht zu verkennen, dass indireet durch schwere und hartnäckige Neuralgien, auch ohne weitere Complicationen, die Lebensdauer ver- kürzt werden kann, in Folge der Schlaflosigkeit, der psychischen Er- | schöpfung, der oft unzweckmässigen Lebensweise solcher Kranken | und ihrer vielleicht ebenso unzweckmässigen Behandlung. 4
$. 37. Die Therapie der Neuralgien kann in mancher Be- ziehung auf ihre Leistungen stolz sein; andererseits ist jedoch nicht zu verkennen, dass auch sie mit denselben Schwierigkeiten zu kämpfen | hat, wie die Diagnose und Prognose. Wir haben einen Symptomen- f complex vor uns, kennen aber in vielen Fällen die Natur und den f Sitz der eigentlichen (anatomischen) Ursache entweder gar nicht oder nur unsicher; ferner können wir die Ursache selbst in Fällen, wo sie # uns genauer bekannt ist, oft nicht. beseitigen; endlich kann das’ f Leiden selbst nach Beseitigung der primären Ursache als selbst- ständiger Process fortdauern, und wir sind somit auf eine rein symptomatische Behandlung angewiesen, welche in den meisten Fäl- len zwar einen günstigen palliativen Erfolg hat, aber relativ selten eine dauernde Heilung herbeiführt. 14 #
Am sichersten ist die Behandlung der typischen, durch Ma- | laria oder anderweitige atmosphärische Einflüsse bedingten Neuralgien; die sogenannten Antitypica (Chinin, Arsenik) heilen diese Neuralgien meist allein, und andere Mittel sind dabei in der Regel vollständig ent- behrlich. Wir werden darauf ausführlicher bei Besprechung der ty- pischen Neuralgia supra-orbitalis zurückkommen. i
Neuralgien. | Bi
Unter denjenigen Neuralgien, welche eine ausgiebigere Berück- sichtigung der ätiologischen Verhältnisse gestatten, stehen die trau- matischen obenan, wobei die Behandlung den Indicationen des ein- zelnen Falles gemäss einzuleiten ist. In der Regel handelt es sich dabei um chirurgische Encheiresen: Entfernung fremder Körper, Spal- tung oder Exeision von Narben, Exstirpation cicatrieieller Neurome, In welcher Weise derartige Eingriffe selbst bei langjährigen Neural- gien nutzbringend wirken können, lehren z. B. die früher eitirten Fälle von Jeffreys und Dieffenbach, denen sich analoge von Du- puytren, Adams u. s. w. anschliessen.
Eine ebenfalls wesentlich chirurgische Causalbehandlung vermag auch anderweitige mechanische Ursachen von Neuralgien oft hin- wegzuräumen: so vor Allem bei Neuralgien durch Knochenleiden (Periostitis, Exostosen, Caries), durch Druck von Geschwülsten, durch oberflächliche Neurome, Pseudoneurome und Tubercula dolorosa. Bei Besprechung der einzelnen Neuralgien werden sich hierfür schlagende Beispiele finden. |
In viel geringerem Grade sind diejenigen Neuralgien, welche auf dyskrasischem Boden wurzeln, einer causalen Behandlung zugänglich; diese führt, wenn überhaupt, selten vollständig zum Ziele, und muss in der Regel durch eine örtliche, symptomatische Behandlung unter- stützt werden.
Die arthritischen und saturninen Neuralgien gehören hierher. In Betreff der ersteren haben wır bereits früher unsere Bedenken ausgesprochen: weit seltener, als manche Autoren annehmen, kommt es auf Grund von Arthritis zu Neuralgien, welche dann allerdings eine gegen das Grundleiden gerichtete, namentlich diätetische Behand- lung erfordern. Dies ist auch bei den saturninen Neuralgien der Fall; doch richtet die Causaltherapie derselben im Ganzen nur wenig aus, zumal da eine vollständige und dauernde Entfernung der Intoxications- ursachen oft nicht durchführbar ist. Glücklicherweise ist die pal- liative Behandlung der Bleineuralgien desto erfolgreicher.
Bei den Neuralgien anämischer und chlorotischer Individuen (wie sie in und nach der Pubertätszeit besonders häufig vorkommen) nützen ausser einer tonisirenden Diät auch die Eisenpräparate, und recht- fertigen dadurch den Ruf, welchen sie — ganz mit Unrecht — auch gegen andere Neuralgien besitzen. Hier können auch die eisenhalti- gen Quellen von Pyrmont, Driburg, Cudowa, Franzensbad u. s. w. zur Heilung beitragen.
Die Neuralgien, welche auf syphilitischer Basis beruhen und
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durch specifische, gummöse Neubildungen in den Nervenstämmen und Centren oder durch chronische irritative Vorgänge, durch syphi- litische Osteitis und Periostitis bedingt sind, weichen häufig einer rein causalen Behandlung. Hier gebührt den Mercurialien und dem Jodkalium ihre Stelle, welche man ihnen unverdienterweise als Spe- eifieis gegen Neuralgien überhaupt anzuweisen gesucht hat. Auch bei manchen rheumatischen Neuralgien erweisen diese Mittel, zumal das Jodkalium, sich nützlich: vielleicht in solchen Fällen, wo die Neuralgie durch eine frischere rheumatische Osteitis und Periostitis, durch Exsudationen und Transsudationen im Neurilem u. s. w. bedingt ist. Aehnlichen Ursprungs scheinen vorzugsweise auch diejenigen Neur- algien zusein, bei denen die Kaltwasserkuren, die See- und Soolbäder, die Dampfbäder, die Thermalquellen von Wiesbaden, Aachen, Teplitz, Gastein u. s. w. Nutzen gewähren. Noch wirksamer ist in solchen Fällen häufig der längere Aufenthalt in einem südlichen Clima, wie die vorzüglichen Erfolge gut gelegener klimatischer Curorte (z. B. Nizza) beweisen.
Bei Neuralgien, welche mit allgemeinen oder örtlichen de tionsstörungen in einem (nachgewiesenen oder vermutheten) Zusam- menhange stehen, wird die Therapie eine Normalisirung der örtlichen oder allgemeinen Circulation anzustreben haben. Dies kann auf sehr verschiedene Weise geschehen; in einem Falle können örtliche Blut- entziehungen, Purganzen u. dergl. — in einem anderen Anregung der Herzaetion oder reflectorische Einwirkung auf die Blutgefässe durch Excitantien, Hautreize u. s. w. erforderlich werden. Das Nähere hierüber kann erst bei den einzelnen Neuralgien Berücksichtigung finden, wie überhaupt alle durch die specielle Oertlichkeit des Leidens gebotenen Modificationen.
$. 38. In zahlreichen Fällen sind wir wegen Unbekanntheit der ätiologischen Momente, oder wegen Insufficienz der causalen Therapie auf eine mehr symptomatische Behandlung angewiesen, mag dieselbe durch allerhand innerlich und äusserlich angewandte „Specifica“, oder, wie es in neuerer Zeit möglich geworden, durch eine methodisch ge- regelte Localbehandlung angestrebt werden.
Die mehr glaubens- als wissensstarke Epoche, welche nur wenige Decennien hinter uns liegt, hatte, wie gegen andere Krankheiten, so auch gegen Neuralgien einen fast unerschöpflichen Vorrath — ich will nicht sagen von Heilmitteln, aber, von Receptformeln in petto. Jeder Arzt, der mit irgend einem Remedium in irgend einem Falle reussirt hatte, hielt sich — wie es freilich auch noch heutzutage
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passirt — zur Empfehlung der neuentdeckten, vermeintlichen. Panacee nieht bloss berechtigt, sondern wo möglich verpflichtet. Wie in der gesammten Therapie, fehlte es auch hier allem Neuen nicht an Credit und Nachahmern. Wer je versucht hat, sich mit der Therapie der Neuralgien historisch zu beschäftigen, der verzichtet ge- wiss auf ein vollständiges Inventar der vorgeschlagenen Medicationen und auf die Sortirung derselben nach irgend einem in der Materia medica gebräuchlichen Schema. Als Beispiele uncritischer und meist antiquirter Empfehlungen mögen die der Zinkpräparate, des Calomel, des Sublimat, des Argentum nitricum, des Auro - Natrium chloratum, der Baryta muriatica, des Ol. Terebinthinae, des Ol. Dippelii, des Creosot, der drastischen Purganzen, und der sogenannten Nervina (Valeriana, Castoreum, Asa foetida u. s. w.) in Erinnerung gebracht werden. An empirischer Wirksamkeit werden alle diese und noch viele andere „Specifica“ unstreitig durch den Arsenik weit über- flügelt, dessen Leistungen freilich, wie schon erwähnt, bei den typisch verlaufenden Neuralgien am unzweideutigsten hervortreten. Neuer- dings hat man die günstigen antineuralgischen Wirkungen des Arsenik, wie auch verschiedener anderer Substanzen (Chinin, Ergotin, Coffein, Belladonna u. s. w.), hauptsächlich durch ihren erregenden Einfluss auf die Gefässnerven und die Steigerung des arteriellen Tonus zu er- klären gesucht, welche Wirkungsweise jedoch keineswegs durch be- friedigende Versuche sicher gestellt ist.
Eine besonders ausgedehnte Verwendung fanden diejenigen Mittel, welche man der Gruppe der Narcotica zuzurechnen pflegt: nicht bloss innerlich (die verschiedensten Opiumpräparate, Belladonna, Stra- monium, Lobelia, Colchieum, Aconit, Conium, Nux vomica, Coffein, Secale cornutum u. s. w.), sondern fast in demselben Maasse auch äusserlich in den so nutzlosen, fast spielerischen Formen epider- matischer Applicationen: Einreibungen von Belladonna-, Aconit- und Veratrinsalbe, von Nicotianin, Ol. Hyoseyami coctum, Chloroform, Elaylehlorür, Fomente mit Aq. laurocerasi u. dgl. — Einzelnes davon ist längst vergessen, Anderes, aber nicht Besseres, geblieben oder an die Stelle getreten, und zum Theil noch jetzt in allgemeinem Ge- brauche, wie z. B. die Veratrinsalbe, die das gespendete Vertrauen auch nicht im Geringsten rechtfertigt. — Unter den anderweitigen äusseren Proceduren spielen seit langer Zeit die sogenannten Haut- reize eine hervorragende Rolle; vor Allem die Blasenpflaster, theils in Form langdauernder Vesieatore, theils in der beliebteren Form der Vesicantia volantia. Die früher ganz unverständlichen Wirkungen
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dieser Mittel sind seit dem Nachweise des reflectorischen "Einflusses von Hautreizen auf die Herzaction und den Gefässtonus (vgl. $. 41.) unserem Verständnisse wenigstens beträchtlich näher gerückt, wenn auch im speciellen Falle häufig noch durchaus unklar. Uebrigens unterliegt es wohl keinem Zweifel, dass auch die antineuralgische Wirkung der Vesicantien zeitweise stark überschätzt worden ist, und von vielen Seiten noch überschätzt wird. Allgemeines lässt sich dar- über freilich kaum sagen, weil die einzelnen Neuralgien sich in dieser
Hinsicht sehr verschieden verhalten; so z. B. leisten die Vesicantien -
bei Intercostal- Neuralgie oder Ischias unstreitig mehr, als bei Pro- sopalgie oder .‚Hemikranie; aber selbst bei den Neuralgien der Extre- mitäten und des Rumpfes besteht der empirische Nutzen der Vesi- cantien doch vorzugsweise in einer palliativen Linderung der Schmer-
zen, welche durch andere Verfahren sowohl rationeller, als auch
sicherer und ausgiebiger herbeigeführt wird. — Ausser den Vesi- cantien hahen auch andere Epispastica (z. B. Tinet. bacc. Mezerei), die chemischen Caustica, Moxen, und das Glüheisen -- besonders in Form der Cauterisation transcurrente — Empfehlung gefunden. Es ist nicht zu läugnen, dass namentlich das Ferrum candens in ein- zelnen schweren Fällen vorübergehende oder dauernde Erfolge aufzu- weisen hat (vgl. Ischias); diese Erfolge sind freilich für uns um nichts klarer, als die der Hautreize überhaupt, so dass von einer Fixirung der speciellen Indicationen dieses wichtigen Mittels nicht die Rede sein kann. — Allgemeine Blutentziehungen, früher bei den meisten Neuralgien unentbehrlich, sind jetzt fast ganz ausgeschlossen, und selbst locale Blutentziehungen durch Schröpfköpfe oder Blutegel nur
noch in viel bescheidenerem Maasse in Anwendung. Noch so man-
ches Andere, wie Acupunctur, Eleetropunctur, Magnetismus, Douchen, Aether-Irrigationen — abgesehen von dem Vielen, welches nicht dem Kreise der offieiellen Mediein angehört! — gelangte in der Therapie der Neuralgien sporadisch zur Geltung. |
8. 39. Die neueste Zeit, mehr und mehr einer nicht skeptischen, aber rationell critischen Auffassung in therapeutischen Dingen zu- neigend, hat diesen gewaltigen Apparat pharmaceutischer und dyna- mischer Mittel grossentheils über Bord geworfen, und beschränkt sich auf wenige, aber in eminenter Weise bewährte, locale Methoden. Dieser glückliche Umschwung knüpft sich zum Theil an die Einfüh- rung der hypodermatischen Injeetionen, welche die symptoma- tische Behandlung der Neuralgien ausserordentlich vereinfacht und
Ber Xi
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vervollkommnet, die meisten älteren Verfahren ersetzt und überflüssig gemacht haben.
Die Anwendung der hypodermatischen Injectionen bei Neural- sien datirt seit 1855, in welchem Jahre Alexander Wood in Edin- burg seine erste Mittheilung über diese Methode veröffentlichte. Zwar hatte man, abgesehen von den epidermatischen Verfahren, vorher schon Narcotica endermatisch (nach der Methode von Lembert und Lesieur, 1823), oder mittelst der Inoculation (nach La- fargue, 1836) subcutan applieirt; doch können diese Verfahren nur als sehr unvollkommene Vorläufer der hypodermatischen Methode be- trachtet werden und sind mit Recht seit Einführung der letzteren fast gänzlich verlassen.”)
Die hypodermatische Injection besteht bekanntlich darin, dass gelöste Arzneistoffe mittelst einer kleinen Spritze und Stileteanüle in die Räume des subcutanen Gewebes eingeführt werden. Die Mittel, welche bei Neuralgien in dieser Form zur Anwendung kommen, sind vorzugsweise narcotische Alcaloide, vor Allem das Morphium. Am empfehlenswerthestesten ist eine Lösung von Morphium aceticum oder hydrochloratum in Glycerin und Wasser, nach folgender Formel:
IR Morphii hydrochlorati 0,4 calefiat cum Glycerini puri 4,0 Sol. perfectae adde Ag. dest. 4,0 D. Ss.
Von der so bereiteten Lösung (1:20) werden, abgesehen von individuellen Ausnahmen, durchschnittlich 10— 15 Theilstriche einer bis zu 50 graduirten Luer’schen Spritze pro dosi in- Jieirt: was nach genauen Bestimmungen des Cubikinhalts dieser Spritzen einer Quantität von 0,01—0,015 (= 4 — % Gran) Morphium entspricht. Bei sehr empfindlichen Personen, Frauen, Kindern u. s. w., muss man mit einer noch kleineren Dosis beginnen. Andererseits kann und muss man oft allmälig bis zu viel grösseren Dosen (0,03 Morphium und mehr) fortschreiten, wenn die Wirkung jeder Einzelinjection sich nach und nach abschwächt.
*) Vgl. mein Buch: „Die hypodermatische Injection der Arzneimittel“ (2. Auf- lage, Berlin 1867), woselbst auch die ganze Literatur bis 1867 vollständig ver- zeichnet ist.
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Die Glycerinlösung gewährt beim Morphium vor der rein wässe- rigen oder mit. Säurezusatz constituirten Lösung den Vortheil einer grösseren Beständigkeit, falls sie genau nach obiger Vorschrift aus- seführt und das dazu benutzte Glycerin chemisch rein ist. — Andere Opiumpräparate (Tinet. Opüi simpl., Extr. Opii, Narcein u. s. w.) können dem Morphium in hypodermatischer Form substituirt werden, ohne jedoch Vortheile darzubieten. Tinet. Opü simplex kann rein angewandt werden; Extr. Opii, mit Aq. dest. ana, zu 0,06—.0,12 pro dosi; Narcein in wässeriger Lösung — Narceini muriat. 0,5; Acidi muriat. q. s.; Aq. dest. 50,0 — in mindestens doppelter Quan- tität wie das Morphium. Andere Opiumalealoide (Thebain, Narcotin) habe ich bei Neuralgien gänzlich unwirksam gefunden, während über das von mir nicht geprüfte Codein erst wenige zweifelhafte Beobach- tungen vorliegen.
Grosses Gewicht ist natürlich auf die sorgfältige Ausführung der Injectionen zu legen, worin von den Aerzten im Allgemeinen noch sehr viele Fehler begangen werden; doch kann ich mich hier auf die Details der Technik nicht weiter einlassen, sondern mnss in dieser Beziehung auf meine Monographie*) verweisen. Nur eins will ich hervorheben: dass sowohl wegen-der directen örtlichen Wirkung, als wegen der localen Verschiedenheiten des Resorptionsvorganges die Wahl der Stichstelle von grossem Einflusse ist. Die Injectionen sind daher bei Neuralgien möglichst auf den affıcirten Nervenstamm selbst zu dirigiren, und zwar an Stellen, wo derselbe am oberflächlichsten und einer localen Einwirkung überhaupt am zugänglichsten liegt, und in grösster Nähe des ursprünglichen Krankheitsheerdes. Ist dies nicht ausführbar, so sind die Injectionen an Stellen vorzunehmen, welche für eine prompte Resorption und Allgemeinwirkung die relativ günstigsten Chancen darbieten, wohin z. B. die Schläfen- gegend, die Regio epigastrica, die innere Seite des Oberarms und Oberschenkels u. s. w. gehören.
$. 40. Ueber die Wirkungsweise der. Morphium-Injeetionen (wie der narcotischen Injeetionen überhaupt) bei Neuralgien habe ich mich in der eitirten Monographie weitläufig ausgesprochen, und kann hier nur die wesentlichsten Punkte kurz Tecapituliren.
Die Morphium-Injectionen wirken als das sicherste, fast nie ver- sagende Palliativmittel, Unsere Aufgabe bei Neuralgien muss, bei
*) L. c. pag. 27—48.
Neuralgien. ze
der so häufigen Ohnmacht den causalen Momenten gegenüber, vor Allem darin bestehen, die Indicatio symptomatica zu erfüllen, d.h. die quälende Schmerzempfindung zu mildern und zu beseitigen. In dieser Beziehung leisten die narcotischen Injectionen nicht bloss mehr als sämmtliche sonstigen Palliativmittel, sondern auch namentlich viel mehr als der innere Gebrauch der Narcotica, da die Allgemeinwir- kung auf das Nervensystem und die davon abhängige Schmerzlinde- rung durch sie viel rascher, zuverlässiger und vollkommener erreicht wird; bei Neuralgien mit peripherischer Basis verringern sie über- dies die zum Gehirn hingelangende Erregung, indem sie durch ihre locale Wirkung die Erregbarkeit der peripherischen Nerven direct herabsetzen. — Abgesehen von dieser fast unfehlbaren Palliativwirkung, können die hypodermatischen Injectionen auch erfahrungsgemäss in manchen Fällen, namentlich bei frisch entstandenen Neuralgien peri- pherischen Ursprungs, eine dauernde Heilung herbeiführen. Zum Ver- ständniss dieser Wirkung liefert uns der örtliche Einfluss der Nar- cotica auf sensible Nerven den Schlüssel, indem durch jede auf einen sensibeln oder gemischten Nervenstamm gerichtete Einspritzung eine Abnahme der Empfindung in dem ganzen zugehörigen Hautbezirke, somit eine Herabsetzung der Erregbarkeit aller sensibeln Fasern des betreffenden Nerven erzielt wird. Die Injectionen erfüllen daher, ausser der Indicatio symptomatica, auch die Indicatio morbi, indem sie, in entsprechenden Intervallen wiederholt, die Erregbarkeit in den sensibeln Fasern auf die Dauer so weit herabsetzen, dass auch bei fortwirkender peripherischer Ursache der zum Schmerz- paroxysmus nöthige Erregungsgrad nicht mehr zu den Nervencentren fortgepflanzt wird. Hieraus ergiebt sich die Möglichkeit einer Heilung bei peripherischen Neuralgien selbst ohne Berücksichtigung der In- dieatio causalis; doch ist eine solche curative Wirkung der Injeetionen immerhin. weit ungewisser und seltener als die palliative. Bei Neural- gien mit centraler Grundlage kann überdies selbstverständlich nur die Allgemeinwirkung der Narcotica, ihre calmirende Wirkung auf das Centralorgan, in Betracht kommen. Freilich ist auch hier eine Heilung nicht undenkbar, indem bei dauernd herabgesetzter Erreg- barkeit der sensibeln Centren ein ursprünglich schmerzerregender Reiz nicht mehr in derselben Stärke pereipirt und als Schmerz empfunden zu werden braucht: erfahrungsgemäss kommt jedoch meist nur eine längere oder kürzere Pause des Schmerzes durch die Mor- phium-Injectionen zu Stande. Meiner Erfahrung nach dürften unter
%
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je 100 Neuralgien durchschnittlich etwa 25 durch entsprechend lan- gen Fortgebrauch der Injeetionen dauernd geheilt werden.
Man hat gegen die protrahirte Anwendung der Morphium-Injec- tionen, wie der Narcotica überhaupt, verschiedene Einwände erhoben: es sollte der Kräfteconsum dadurch begünstigt, die Gehirnthätigkeit alterirt werden u. dgl. — Ich stehe nicht an, diese von Laien nur allzu begierig aufgegriffenen Einwände für ganz hinfällig und die systematische Anwendung der Narcotica für eine Wohlthat gegen die Kranken, für ein durch die Humanität dringend gebotenes Postulat zu erklären. Die hypodermatische Form der Application hat übrigens auch den Vorzug, dass dabei eine raschere Elimination der Mittel stattfindet und das Eintreten eumulativer Wirkungen daher weniger zu besorgen ist als bei innerem Gebrauche.
Nächst den Opiumpräparaten ist am häufigsten das Atropin gegen Neuralgien hypodermatisch applieirt worden, namentlich von französischen Autoren mit einer gewissen Vorliebe, indem man diesem Alcaloid eine stärkere örtliche Wirkung bei schmerzhaften Affectionen zuschrieb als dem Morphium. Ich habe dasselbe, wiewohl in seltenen Fällen, bei Neuralgien mit ziemlich ähnlichem palliativem Erfolge injieirt wie die Opiumpräparate. Im Allgemeinen scheint mir die Anwendung dieses nicht unbedenklichen (schon bei minimalen Dosen öfters von fulminanten Vergiftungserscheinungen begleiteten) Mittels nur in den seltenen Ausnahmefällen gerechtfertigt, wo die Morphium- Injectionen entweder einer besonderen Idiosynkrasie wegen nicht ver- tragen werden, oder bei eingetretener Gewöhnung auf die Dauer im Stich lassen. Die Dosis beträgt vom Atrop. sulf. 0,001 — 0,003 (— Yo — Yo Gran) in einzelnen Fällen bei vorsichtiger Steigerung auch bis zu 0,005 (Atrop. sulf. 0,01 in Agq. dest. 10,0; 5—15— 25 Theilstriche). — Das von Einzelnen substituirte Atrop. valerianicum ist in derselben Dosis anwendbar, gewährt jedoch keine Vorzüge.
8. 41. Nächst den hypodermatischen Injeetionen hat in neuerer Zeit die Eleetriecität, und zwar sowohl in Form des inducirten, wie des eonstanten Stromes bei der localen Behandlung der Neuralgien eine hervorragende Bedeutung erlangt.
Die Induetions-Electrieität fand seit der Ausbildung ihrer localen Methodik durch Duchenne auch Eingang in die Behandlung der Neuralgien, und zwar vorzugsweise als eutane Faradisation (in Form der faradischen Pinselung), viel weniger in Form direeter Faradisation der ergriffenen Stämme. Die cutane Faradisation, welche ebenfalls
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Duchenne ihre methodische Ausbildung verdankt*), besteht theils im Schlagen der Haut mit dem metallischen Pinsel (electrische Geisselung, „fustigation eleetrique“ nach Duchenne), theils in län- gerer, eontinuirlicher Application des Pinsels auf eine und dieselbe Hautstelle („moxa electrique“),, Auch kann man mit dem Pinsel über die Hautoberfläche hinstreichen, oder das als „electrische Hand“ bezeichnete Verfahren in Anwendung bringen (vgl. Hemicranie). — Die verschiedenen Methoden der cutanen Faradisation bedingen eine mehr oder minder intensive Hautreizung, welche sich durch Schmerz, Röthung, Contraction der glatten Muskelfasern der Haarbälge und Drüsenmündungen u. s. w. bekundet. Ausser diesen örtlichen kommt aber die allgemeine Wirkung der Faradisation, wie der Hautreize überhaupt, wesentlich in Betracht. Die faradische Pin- selung übt nach den an Fröschen angestellten Versuchen von 0. Naumann**) einen reflectorischen Einfluss auf die Herzner- ven und das vasomotorische Nervensystem, dergestalt, dass schwache Pinselung eine Beschleunigung des Blutlaufs mit Ver- engerung der Gefässe und verstärkter Herzaction — starke Pinselung den entgegengesetzten Effect, Verlangsamung des Blutlaufs mit Er- weiterung der Gefässe und verminderter Herzaction, hervorbringt. Dieser reflectorische Einfluss auf Herz und Gefässsystem ist, wie ich mich durch sphygmographische Beobachtungen überzeugt habe, auch am Menschen in gewissem Grade nachweisbar; es lässt sich nämlich zeigen, dass bei faradischer Pinselung anfangs ein Stadium entsteht, welches der schwachen Hautreizung entspricht, indem an der Radialeurve die Erscheinungen von vermehrter Pulsfreqguenz und verstärktem Tonus . auftreten, welche aber bald von den entgegengesetzten Erscheinungen abgelöst werden. Dass diese Reflexwirkungen bei den antineuralgischen Leistungen der cutanen Faradisation nicht unwesentlich sind, folgt aus einer schon von Duchenne gemachten, aber missverstandenen Beobachtung. Die Faradisation hat auch dann Erfolg, wenn sie nicht in loco dolenti, sondern in geringerem oder grösserem Abstande davon ausgeführt wird. Duchenne, welcher diesen Erfolg dem durch die Faradisation hervorgerufenen plötzlichen Schmerz zuschreibt, stellt daher sogar den Satz an die Spitze, dass ein künst- lich an irgend einer - beliebigen Hautstelle etablirter, lebhafter und augenblicklicher Schmerz Neuralgien in eingreifender Weise zu modi-
*) Eleetrisation localisee, (2. Aufl., Paris 1861) p. 82 ff. **) Untersuchungen über die physiologischen Wirkungen der Hautreizmittel, Prager Vierteljahrsschrift 1863 pag. 1—16.
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fieiren und zu heilen vermöge*). Allerdings ist in den meisten Fällen die Behandlung in loco dolenti von eclatanterer Wirkung. Dieses Factum ist jedoch leicht aus den intimeren reflecetorischen Beziehungen zwischen sensibeln und vasomotorischen Nerven einer und derselben Hautregion zu erklären, die ja auch in den die Neuralgien beglei- tanden örtlichen Cirkulationsstörungen vielfach hervortreten. Ob übri- gens der antineuralgische Effect der cutanen Faradisation (wie der Hautreize überhaupt) bei Neuralgien wesentlich auf diese reflectorische Action zurückzuführen ist, oder ob noch andere, unbekannte Factoren - dabei concurriren, muss einstweilen dahingestellt bleiben. Jedenfalls verdient die faradische Pinselung vor allen anderen Hautreizen bei Weitem den Vorzug, weil sie den intendirten Effect in promptester Weise, beinahe momentan, und ohne Verletzung der Gewebe, ohne nachdauernde Belästigung, überdies in jeder beliebigen Intensitätsab- stufung hervorruft.
Was die Wahl zwischen den beiden Methoden der elektrischen Geissel und der elektrischen Moxe betrifft, so verdient im Allgemei- nen letztere bei Neuralgien den Vorzug, und zwar ist dabei der Pinsel auf solche Stellen zu applieiren, die entweder dem Nerven bei seinem Austritt aus dem Centralorgan möglichst nahe liegen, oder in denen der Nerv oberflächlich unter der Haut verläuft, namentlich auf etwa vorhandene points douloureux. Nach zahlreichen Beobachtungen ist die Wirkung der Moxe am kräftigsten, wenn man den Pinsel in kleinem Abstande (etwa Y, Ctm.) von der Haut hält, so dass bei hinreichend starkem Strome Spannungsfunken von den Metallfäden des Pinsels auf die Haut überspringen. Am sichersten ist die anti- neuralgische Wirkung der Moxe bei vielen peripherischen Neuralgien, die nicht durch mechanische Ursachen (comprimirende Geschwulst, Knochenleiden u. s. w.) oder durch Neuritis bedingt sind. Der Schmerz soll sich in einzelnen Fällen schon nach einmaliger Application dauernd verloren haben; wobei aber gewiss oft schmerz- hafte Affeetionen pseudoneuralgischer Natur mit Neuralgien verwech- selt worden sind. Gewöhnlich bedarf es jedenfalls eiuer grösseren Anzahl von Sitzungen; häufig genug lässt aber die cutane Fara- disation vollständig im Stich oder erzielt nur eine äusserst flüchtige, palliative Wirkung. Schon Duchenne hebt diese grosse Unsicher- heit und Verschiedenheit der Wirkung ausdrücklich hervor und be- merkt mit Recht, dass diejenigen Fälle, in welchen die eutane Fara-
Le. 230.352
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disation einen unmittelbar günstigen Erfolg nicht hat, auch fast niemals durch diese Behandlungsweise geheilt werden, und in der Regel von schwereren organischen Veränderungen herrühren *).
Noch unsicherer ist im Allgemeinen das zweite, besonders von Becquerel empfohlene Verfahren, welches darin besteht, den Induc- tionsstrom mittelst angefeuchteter Rheophoren durch den affieirten Ner- ven selbst hindurchzuleiten (und zwar, nach Becquerel, in centri- petaler Richtung; eine ebenso irrationelle, als chimärische Angabe, da es sich bei den von Becquerel angewandten Apparaten um alter- nirend gerichtete Inductionsströme handelt). Bei einzelnen meist peripherischen, rheumatischen oder traumatischen Neuralgien soll dieses Verfahren Besserung und sogar Heilung hervorgebracht haben. Man hat diese Erfolge auf die erregbarkeitsvermindernde Wirkung starker Inductionsströme (in Folge der Ueberreizung und Ermüdung) bezogen; es ist jedoch möglich, dass es sich theils auch um Re- flexwirkung durch Erregung sensibler Stammfasern, theils (wie beim constanten Strome) um trophische — katalytische — Einwirkungen handelt.
8. 42. Der constante Strom hat, abgesehen von einigen obso- leten und unpractischen älteren Applicationsweisen — Elektropunktur, Anlegung einer Pulvermacher’schen Kette u. dgl. — erst durch Remak**) das Bürgerrecht in der Behandlung der Neuralgien er- worben. Remak ging bei Anwendung des constanten Stroms gegen Neuralgien von dem doppelten Gesichtspunkte aus, dass der constante Strom einmal vermöge seiner katalytischen Wirkungen manche die Nerven belastenden Reize zu entfernen, andererseits die Erregbarkeit der Nervenfaser herabzusetzen vermöge. Er empfahl daher den con- stanten Strom zunächst vorzugsweise bei rheumatischen Neuralgien, als deren Ursache er entzündliche exsudative Veränderungen im Neu- rilem vermuthete, und zwar in Form stabiler, absteigend gerichteter Ströme. Später glaubte Remak, bei den Neuralgien des Kopfes vorzugsweise den Halssympathicus, bei den am Halse und Rumpfe vorkommenden Neuralgien die Spinal- und Sympathicus-Ganglien in den meisten Fällen als Ausgangspunkt betrachten zu müssen, und suchte daher den constanten Strom auf diese, seiner Meinung nach aetiologisch betheiligten Gebilde zu localisiren (vgl. Prosopalgie, Neuralgia intercostalis u. s. w.). So viel Irriges und Uebereiltes
SDel..c. pag. 958: /**) Galvanotherapie, Berlin 1858, pag. 420 —440.
Eulenburg, Nerveakrankheiten. 6
82 Neurosen der Tast- und Gefühlsnerven.
auch die damaligen Angaben Remak’s zu Tage gefördert haben, so war sein Streben nach einer galvanischen Localbehandlung, d. h. einer Galvanisation nicht in loco dolenti, sondern in loco morbi, am Sitze des eigentlichen Krankheitsheerdes, doch entschieden verdienst- voll, und darf als Richtschnur den jetzigen und zukünftigen Leistungen der Galvanotherapie auf diesem Geblete vorangestellt werden. Dieses Prineip der galvanischen Localbehandlung setzt freilich als nothwen- diges Postulat eine exacte Localdiagnostik des primären Krankheits- heerdes voraus, über deren Schwierigkeiten wir uns früher geäussert haben. Auf Grund der im einzelnen Falle mit mehr oder weniger Bestimmtheit gestellten Localdiagnose wird man bald eine peripherische, bald eine centrale Galvanisation einzuleiten haben, und im ersteren Falle den Strom auf die Nervenstämme, Plexus, Wurzeln, in letzte- ren auf Rückenmark, Sympathicus-Ganglien und Gehirn localisiren. Die positive Electrode ist dabei im Allgemeinen an der differenten Stelle (am Sitze des Krankeitsheerdes, auf dem Nerven oder im mehr centralen Abschnitte desselben) — die negative an einer in- diffenenten Stelle oder in der peripherischen Nervenausbreitung zu appliciren.
Ueber Intensität des Stromes, Dauer und Zahl der Sitzungen u, s. w. lassen sich allgemeine Vorschriften kaum ertheilen, indem hier die Verschiedenheit der einzelnen Nervengebiete oder des Appli- tionsorgans, und endlich die individuelle Empfindlichkeit zahlreiche Unterschiede bedingen. Im Allgemeinen dürfen die Sitzungen nicht zu kurz sein (5 — 10 Minuten) und müssen täglich — selten in grösseren Pausen — wiederholt werden. Die speciellen Modalitäten des Verfahrens werden wir bei den einzelnen Neuralgien erörtern.
Die Wirkung des constanten Stromes ist in palliativer Hinsicht oft eine äusserst glänzende und wird in dieser Hinsicht nur durch die Erfolge der subeutanen Morphium-Injectionen übertroffen. Weit zweifelhafter steht es jedoch auch hier mit der curativen Wirkung, wie ich, wohl auf eine hinreichend grosse Anzahl von Erfahrungen gestützt, den allzu sanguinischen Angaben enragirter Galvanothera- peuten gegenüber behaupten darf. Am günstigsten gegen die galva- nische Behandlung verhalten sich die peripherischen, durch leich- tere traumatische und rheumatische Momente veranlassten Neur- algien, sowie auch diejenigen, welche von einer idiopathischen Neuritis herrühren. Die Neuralgien, welche durch pathologische Processe in der Umgebung des Nerven, namentlich durch Knochen- leiden, Neubildungen u. s. w. entstehen, können durch die gal-
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vanische Behandlung allein entweder gar nicht, oder nur in den seltensten Fällen gehoben werden. Die meisten „Heilungen “ werden jedenfalls bei Neuralgien errungen, welche gar keine sind, sondern weit richtiger als Myalgien, Arthralgien ete. aus rheumatischer oder trau- matischer Veranlassung registrirt werden sollten. — Auch bei cen- tral bedingten Neuralgien sind wirkliche Heilungen zweifelhaft, jeden- -falls selten; palliative Erfolge dagegen ebenso glänzend als zahlreich. Die antineuralgischen Leistungen des constanten Stroms — sowohl die palliativen als die curativen — beruhen wohl nur zum geringsten Theile auf den durch den Strom herbeigeführten Veränderungen der Erregbarkeit; wenigstens ist das physiologische Verständniss einer solchen Wirkung bei näherer Betrachtung keineswegs so einfach und einleuchtend, wie es vielleicht auf den ersten Anblick erscheint. Es liegt nahe, an den im Momente der Stromschliessung entstehen- den, mit der Stromstärke nnd Stromdauer wachsenden, Anelec- trotonus zu denken, und die am ausgeschnittenen Froschnerven eintretenden Wirkungen auf die Galvanisation beim Menschen zu übertragen. Dass in der That auch bei percutaner Galvani- sation am Menschen der Anelectrotonus in einem Theile des po- larisirten Nerven entsteht und durch Messungen sichtbar gemacht werden kann, ist nach Versuchen, welche an Bewegungsnerven von mir und von Erb angestellt wurden, allerdings nicht zu bezweifeln. Indessen abgesehen davon, dass der negative anelectrotonische Erreg- barkeitszuwachs beim Menschen nur an einzelnen oberflächlich gele- genen Nervenstämmen (Accessorius, Ulnaris ete.) überhaupt nachweis- bar ist, kann die anelectrotonische Phase verminderter Erregbar- keit doch auch nur für die Zeit der Stromdauer Gültigkeit haben. Nach physiologischen Analogien, wie nach den direct am Menschen gewonnenen Versuchsergebnissen, schlägt dieselbe sogar im Mo- mente der Stromöffnung in die entgegengesetzte Phase um, d. h. die Erregbarkeit erfährt einen mehr oder minderbedeutenden positi- ven Zuwachs, um alsdann allmälig in den ursprünglichen Zustand zurückzukehren. Es werden also die nach der Oeffnung fortdauern- den beruhigenden Wirkungen des Stromes durch den Anelectrotonus allein keineswegs erklärt. Sehr wahrscheinlich beruht der antineur- algische Werth des constanten Stromes zum integrirenden Theile auf den schon von Remak urgirten, in ihren Details aber erst wenig erforschten katalytischen Wirkungen, welche bei örtlicher Anwendung die Beseitigung vorhandener Krankheitsreize (materieller 6*
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Veränderungen am Nerven, in der Umgebung desselben, oder in den Centralorganen) befördern. Die antineuralgische Wirkung des constanten Stromes beruht also in letzter Instanz auf Erfüllung einer Indicatio causalis: und je mehr wir dies erkennen und zugleich in der localen Diagnostik der Neuralgien fortschreiten, desto grössere und dauerndere Erfolge werden wir auch von der localen Galvani- sation auf diesem Gebiete noch unzweifelhaft erndten. Zum Ver- ständniss dieser katalytischen Wirkungen können wir einstweilen nur sagen, dass dieselben wahrscheinlich zum Theil in chemischen Einflüssen auf die Gewebe beruhen — zum Theil aber auch, nach Analogie der Hautreize, in reflectorischen Einwirkungen auf die Blutcireulation (Herzaction und Gefässtonus). Letztere Einwirkungen können bald mehr örtlicher, provincieller Natur sein (reflectorische Verengerung oder Erschlaffung in einem ceircumseripten Gefässgebiete) — bald diffus, von reflectorisch veränderten Thätigkeiten der regulatorischen Herznerven und des vasomotorischen Nervencentrums abhängig. Die Existenz solcher Reflexwirkungen und ihre Modificationen nach Appli- cationsort, Dauer, Stromintensität u. s. w. sind durch die von mir und Schmidt am Menschen angestellten sphygmographischen Unter- ' suchungen in einigen Hauptzügen dargelegt worden”).
$. 43. Als nicht unwichtige Palliativmittel bei Behandlung der Neuralgien sind die Anwendung der Kälte (d. h. der örtlichen Wärmeentziehung) und der Compression zu erwähnen.
Was die Kälte betrifft, so werden wir auf die sensibilitätsver- mindernde, anästhesirende Wirkung derselben bei der Pathogenese der eutanen Anästhesien ausführlich zurückkommen, Der therapeu- tische Effect der Kälte ist bei den eigentlichen Neuralgien begreif- licherweise geringer, als bei schmerzhaften Affectionen nicht-neural- gischer Natur, welche in der Haut oder in oberflächlich gelegenen Parenchymen ihren Sitz haben. Doch kann die Anwendung der Kälte (in Form von Eis oder künstlichen Kältemischungen) auch die Erregbarkeit in den unter der Haut gelegenen Nervenstämmen beträchtlich verringern, wie Versuche von Weber, M. Rosen- thal und mir am N. ulnaris beweisen. Die günstige palliative Wirkung der Kälte nicht nur bei peripherischen Hyperalgien, sondern auch bei Neuralgien peripherischen Ursprungs wird durch diesen Um-
*) Eulenburg und Schmidt, Untersuchungen über den Einfluss bestimmter Galvanisationsweisen auf die Pupille, die Herzaction und den Gefässtonus beim Menschen, Centralblatt f. d. med. Wissensch. 1868, 21. u. 22.
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stand hinreichend begründet. Natürlich ist auch hier die locale Application, in möglichster Nähe des Krankheitssitzes, von grosser Bedeutung. Auch bei centralen Neuralgien ist die energische Anwendung von Eis auf den Kopf und auf die Wirbelsäule (an letz- terer mit Hülfe der Chapman’schen ice - bags) nicht selten von Nutzen.
Von dem calmirenden Einflusse der örtlichen Compression bei Neuralgien oberflächlicher Nervenstämme ist schon früher bei Be- sprechung der Druckpunkte die Rede gewesen. Die Compression muss methodisch auf den betroffenen Nervenstamm, möglichst central, anhaltend und bis zur Unterbrechung der Leitung ausgeübt werden. In dieser Art angewandt, ist sie ein sehr schäzbares, in einzelnen Fällen vortreffliches Palliativmittel. Leider stehen ihrer allgemeinen Verwerthung die Schranken entgegen, dass 1) viele von Neuralgien befallene Nerven einer genügenden Compression überhaupt nicht zugänglich sind; 2) die Neuralgie häufig oberhalb der comprimir- baren Nervenstrecke ihren Sitz hat, die Unterbrechung der Leitung also keinen Einfluss auf den excentrisch empfundenen Schmerz aus- übt; 3) die Compression nur selten von den Kranken selbst mit der erforderlichen Genauigkeit geübt wird. Dass Letzteres freilich nicht ausser der Möglichkeit liegt, beweist schon die von Bell er- zählte Geschichte eines Prosopalgischen, der beim Eintritt des Schmer- zes die Finger fest auf das Foramen infraorbitale, auf den inneren Augenwinkel, auf die Stirnnerven, auf den Temporalis vor dem Öhre u. 8. w. drückte, und durch diese Versuche fast eine anatomische Uebersicht vom Verlaufe des Quintus erlangte! — Unter Umständen erweist sich übrigens auch schon eine diffuse, nicht auf den leidenden Nervenstamm localisirte Compression wirksam, falls sie nur ebenfalls kräftig und anhaltend genug bis zur Unterbrechung der Leitung in den comprimirten Nervenröhren geübt wird. Kranke, die an Trige- minus-Neuralgien leiden, pressen zuweilen den Kiefer zwischen bei- den Händen zusammen, drücken das Gesicht fest gegen ein hartes Kissen oder gegen die Bettwand, um sich Linderung zu verschaffen, und Kranke mit visceralen Neuralgien (Cardialgien, Coliken) stemmen die Hand, die Faust, oder irgend einen schweren Kör- per zur Ausübung einer kräftigen Compression gegen den schmerzhaften Theil an. — 0Oefters finden sich auch bei oberfläch- lichen Neuralgien Punkte, die nicht im Verlaufe grösserer Nervenäste liegen, von denen aus der Schmerz durch Druck coupirt, oder we- nigstens gemildert werden kann. Man kann diese Punkte, auf welche
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namentlich Remak aufmerksam gemacht hat, als schmerzhemmende Druckpunkte bezeichnen. Sie unterscheiden sich, abgesehen von ihrer Lage, von den points douloureux auch dadurch, dass bei letzteren ein leichter und kurzer Druck den Schmerz steigert oder hervorruft, und nur ein starker anhaltender Druck häufig Linderung bewirkt, während eine Provocation des Schmerzes von den hemmenden Druck- punkten aus nicht stattfindet.
8.44. Wir haben endlich die chirurgische, operativeBehandlung der Neuralgien zu besprechen. Abgesehen von denjenigen chirurgi- schen Encheiresen, welche zur Erfüllung der Indicatio causalis vor- genommen werden (Extraction von fremden Körpern, Beseitigung comprimirender Geschwülste am oder in der Umgebung des Nerven etc.) hat man durch eine Reihe operativer Eingriffe der Indicatio morbi selbst zu entsprechen gesucht. Es gehören dahin vorzugsweise die Durchschneidung des schmerzenden Nerven (Neurotomie) und die Excision eines Stückes aus der Continuität desselben (Nerven- resection, Neurectomie); ferner als seltener geübte Encheiresen die Abschneidung der arteriellen Blutzufuhr zu den neuralgisch af- fieirten Theilen durch Compression oder Ligatur des Haupt- arterienstammes; und endlich die noch seltener in Betracht kom- mende, operative Beseitigung des schmerzenden Theiles selbst bei Neuralgien der Extremitäten, durch Amputationen oder Exarticula- tionen. Wir müssen die Details über diese Verfahren auf die Be- sprechung der einzelnen Neuralgien versparen, und uns hier auf die allgemeinen leitenden Prineipien bei Anwendung derselben be- schränken. |
- Die Neurotomie und Neureetomie dürfen rationeller Weise nur an rein sensibeln oder (richtiger gesagt) nicht mit der Innervation willkürlicher Muskeln beauftragten Nerven ausgeführt werden, da sonst eine meist andauernde und mit schweren Functionsstö- rungen verbundene Lähmung die Folge der Operation ist. Die genannten Eingriffe beschränken sich daher auch vorzugsweise auf das Gebiet der sensibeln Trigeminusäste. Gar nicht verwendbar sind sie bei visceralen Neuralgien; relativ selten angewandt bei Neur- algien des Halses, Rumpfes und der Extremitäten. An letzteren ist natürlich, da die grösseren Nervenstämme sämmtlich gemischter Na- tur sind, eine consecutive Lähmung, welche die Functionen der Glie- der im höchsten Grade beeinträchtigt, ganz unausbleiblich.
Was den Erfolg dieser Operationen betrifft, so ist dabei im All- gemeinen der Sitz und die Natur des primären Krankheitsheerdes
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maassgebend. Die günstigsten Chancen bieten natürlich peripherische, dureh Knochenleiden, Neuritis ete. bedingte Neuralgien, wenn es möglich ist, den Nerv central vom Sitze des Leidens zu durchschneiden oder zu reseciren. Auch in solchen Fällen ist jedoch die Wirkung sehr häufig keine dauernde, weil durch Regeneration des getrennten Ner- ven die sensible Leitung und damit auch meistdie Neuralgie wiederherge- stellt wird. Die Restitutio in integrum der sensibeln Leitung scheint bei der einfachen Durchschneidung im Allgemeinen weit rascher als bei der Exeision eines Nervenstücks zu erfolgen. Nach ersterer sieht man daher den Schmerz oft schon in 3— 4 Monaten, nach letzterer selten vor 6—8 Monaten, häufig sogar erst nach Jahres- frist und später reeidiviren. Die Mehrzahl der Chirurgen spricht sich daher entschieden zu Gunsten der Neurectomie aus, wobei übrigens auch die Länge des resecirten Nervenstücks wesentlich in Betracht kommt; wenn v. Bruns mit Recht als Minimum dafür 1 Ctm. auf- stellt, so ist man über dieses Maass weit hinausgegangen und hat in einzelnen Fällen sogar 3 Zoll lange Stücke aus dem Nerven exstir- pirt (z. B. Gross*) aus dem N. inframaxillaris). — Der grösseren Sicherheit der Neurectomien gegenüber ist freilich nicht zu vergessen, dass dieselben einen meist schwierigeren und gefahrvolleren Eingriff darstellen, als die einfache Neurotomie; letztere kann in manchen Fällen fast unblutig, subeutan ausgeführt und nöthigenfalls bei Rück- kehr des Schmerzes ebenso leicht wiederholt werden. Diese Gründe haben einzelne Chirurgen (z.B. C. 0. Weber**) veranlasst, der Neuro- tomie den Vorzug zu geben. Wenn jedoch Weber zugleich be- hauptet, dass nach der einfachen Neurotomie die Leitung fast gleich lange unterbrochen bleibe wie nach der Neurectomie, so stehen dieser Behauptung zu zahlreiche Thatsachen und Erfahrungen gegenüber, um derselben eine allgemeine Berechtigung zu vindiciren. Kehrt nach Resectionen der Schmerz wieder, so kann man auch, wie nach Neu- rotomien, die Operation an derselben Stelle wiederholen, d. h. die inzwischen entstandene Narbe excidiren; wenn dies erfolglos bleibt, hat man häufig den Nerven an einer höheren Stelle zu erreichen ge- sucht und ist dabei zu sehr schwierigen und gewagten Eingriffen (Resection des N. supra-maxillaris am For. rotundum, des infra- maxillaris am For. ovale) fortgeschritten. Die Technik dieser Ope- rationen hat durch die vereinten Bemühungen französischer, englischer,
*) Amer. journ. N. $S. CIX. 18°8. “) Pitha und Billroth’s Chirurgie, II. Band, 2. Abth. p. 224.
Ro
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amerikanischer, vor Allem aber deutscher Chirurgen in neuester Zeit eine ausserordentliche Vervollkommnung erhalten (vgl. Prosopalgie).
Bei centralem Sitze der Neuralgien haben manche Autoren den Neurotomien und Neurectomien nicht nur jeden Effect abgesprochen, sondern dieselben sogar für ganz irrationelle und und unberechtigte Eingriffe erklärt, und als solche verurtheilt. Dieses Urtheil ist im höchsten Grade einseitig und übertrieben. Die Erfolge der Opera- tionen auch bei entschieden centralen Neuralgien sind nicht nur durch zahlreiche Erfahrungen ausgezeichneter Chirurgen bestätigt, sondern auch theoretisch sehr wohl zu begründen. Die Autoren, welche mit jenen nahe liegenden Vorwürfen so leicht bei der Hand sind, über- sehen vollständig, dass Einwirkungen, welche an der Peripherie eines Nerven geüht werden, über die unmittelbaren Angriffsstellen hinaus einen sehr beträchtlichen centripetalen Effect, bis auf die Central- stellen des betroffenen und sogar auf die Centralstellen anderer be- nachbarter und entfernter Nerven ausüben können. Gerade die Neur- algien liefern dazu die treffendsten Illustrationen. Wir haben